KANDINSKY
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The Hilla von Rebay Foundation
KANDINSKY
DAS GEISTIGE
IN DER KUNST
DRITTE AUFLAGE
KANDINSKY
ÜBER DAS GEISTIGE
IN DER KUNST
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KANDINSKY
/W
ÜBER DAS GEISTIGE
IN DER KUNST
INSBESONDERE IN DER MALEREI
MIT ACHT TAFELN
UND ZEHN ORIGINALHOLZSCHNITTEN
DRITTE AUFLAGE
MÜNCHEN 1912
R. PIPER & CO., VERLAG
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The Hilla von Rebay Foundation
DEM ANDENKEN AN
ELISABETH TICHEJEFF
GEWIDMET
INHALT
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
A. ALLGEMEINES Seite
I. EINLEITUNG 3
II. DIE BEWEGUNG 11
III. GEISTIGE WENDUNG 18
IV. DIE PYRAMIDE . 36
B. MALEREI
V. WIRKUNG DER FARBE 43
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 50
VII. THEORIE 96
VIII. KUNSTWERK UND KÜNSTLER 114
SCHLUSSWORT 121
BILDBEIGABEN
1. Mosaik in S. VITALE (Ravenna)
2. Victor und Heinrich DÜNWEGGE „Kreuzigung Christi" (Alte
Pinakothek-München)
3. Albrecht DÜRER „Beweinung Christi" (Alte Pinakothek-München)
4. RAFFAELE Santi „Die heilige Familie aus dem Hause Canigiani"
(Alte Pinakothek-München)
5. PAUL CEZANNE „Die Badenden" (mit Genehmigung von Bern-
heim Jeune-Paris)
6. KANDINSKY — Impression „Park" (1910)
7. „ — Improvisation No. 18 (1911)
8. „ — Komposition No. 2 (1910)
L
Vorwort zur ersten Auflage
Die Gedanken, die ich hier entwickle, sind Resultate von Beob-
achtungen und Gefühlserfahrungen, die sich allmählich im Laufe der
letzten fünf bis sechs Jahre sammelten. Ich wollte ein größeres Buch
über dieses Thema schreiben, wozu viele Experimente auf dem Gebiete
des Gefühls gemacht werden müßten. Durch andere auch wichtige
Arbeiten in Anspruch genommen, mußte ich fürs nächste auf den ersten
Plan verzichten. Vielleicht komme ich nie zur Ausführung desselben.
Ein anderer wird es erschöpfender und besser machen, da in der Sache
eine Notwendigkeit liegt. Ich bin also gezwungen, in den Grenzen eines
einfachen Schemas zu bleiben und mich mit der Weisung auf das
große Problem zu begnügen. Ich werde mich glücklich schätzen, wenn
diese Weisung nicht im Leeren verhallt.
Vorwort zur zweiten Auflage
Dieses kleine Buch war im Jahre 1910 geschrieben. Vor dem
Erscheinen der ersten Auflage (Januar 1912) habe ich weitere Er-
fahrungen der Zwischenzeit eingeschoben. Seitdem ist wieder ein
halbes Jahr vergangen und manches sehe ich heute freier, mit
weiterem Horizont. Nach reiflicher Überlegung habe ich von Er-
gänzungen abgesehen, da sie noch ungleichmäßig nur manche Teile
präzisieren würden. Ich entschloß mich, das neue Material zu schon
seit einigen Jahren sich sammelnden scharfkantigen Beobachtungen
und Erfahrungen aufzuhäufen, die als einzelne Teile einer Art „Har-
monielehre in der Malerei" vielleicht mit der Zeit die natürliche Fort-
setzung dieses Buches bilden werden. So blieb die Gestalt dieser
Schrift in der zweiten Auflage, die sehr schnell auf die erste folgen
mußte, beinahe ganz unberührt. Ein Bruchstück der weiteren Ent-
wicklung (resp. Ergänzung) ist mein Artikel „Über die Formfrage"
im „Blauen Reiter".
München, im April 1912.
KANDINSKY
ALLGEMEINES
I.
EINLEITUNG
Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit, oft ist es Mutter unserer
Gefühle.
So bringt jede Kulturperiode eine eigene Kunst zustande, die nicht
mehr wiederholt werden kann. Eine Bestrebung, vergangene Kunst-
prinzipien zu beleben, kann höchstens Kunstwerke zur Folge haben,
die einem totgeborenen Kinde gleichen. Wir können z. B. unmöglich
wie alte Griechen fühlen und innerlich leben. So können auch die An-
strengungen, z. B. in der Plastik die griechischen Prinzipien anzu-
wenden, nur den griechischen ähnliche Formen schaffen, wobei das
Werk seelenlos bleibt für alle Zeiten. Eine derartige Nachahmung
ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
gleicht den Nachahmungen der Affen. Äußerlich sind die Bewegungen
des Affen den menschlichen vollständig gleich. Der Affe sitzt und
hält ein Buch vor die Nase, blättert darin, macht ein bedenkliches Ge-
sicht, aber der innere Sinn dieser Bewegungen fehlt vollständig.
Es gibt aber eine andere äußere Ähnlichkeit der Kunstformen,
der eine große Notwendigkeit zugrunde liegt. Die Ähnlichkeit
der inneren Bestrebungen in der ganzen moralisch -geistigen
Atmosphäre, das Streben zu Zielen, die im Hauptgrunde schon
verfolgt, aber später vergessen wurden, also die Ähnlichkeit der
inneren Stimmung einer ganzen Periode kann logisch zur Anwendung
der Formen führen, die erfolgreich in einer vergangenen Periode den-
selben Bestrebungen dienten. So entstand teilweise unsere Sympathie,
unser Verständnis, unsere innere Verwandtschaft mit den Primitiven.
Ebenso wie wir, suchten diese reinen Künstler nur das Innerlich-
Wesentliche in ihren Werken zu bringen, wobei der Verzicht auf
äußerliche Zufälligkeit von selbst entstand.
Dieser wichtige innere Berührungspunkt ist aber bei seiner ganzen
Wichtigkeit doch nur ein Punkt. Unsere Seele, die nach der langen
materialistischen Periode erst im Anfang des Erwachens ist, birgt
in sich Keime der Verzweiflung des Nichtglaubens, des Ziel- und
Zwecklosen. Der ganze Alpdruck der materialistischen Anschauungen,
welche aus dem Leben des Weltalls ein böses zweckloses Spiel gemacht
haben, ist noch nicht vorbei. Die erwachende Seele ist noch stark unter
dem Eindruck dieses Alpdruckes. Nur ein schwaches Licht dämmert
wie ein winziges Pünktchen in einem enormen Kreis des Schwarzen.
Dieses schwache Licht ist bloß eine Ahnung, welches zu sehen die
I. EINLEITUNG
Seele keinen vollen Mut hat, im Zweifel, ob nicht dieses Licht — der
Traum ist, und der Kreis des Schwarzen — die Wirklichkeit. Dieser
Zweifel und die noch drückenden Leiden der materialistischen Phi-
losophie unterscheiden stark unsere Seele von der der „Primitiven".
In unserer Seele ist ein Sprung und sie klingt, wenn man es erreicht
sie zu berühren, wie eine kostbare in den Tiefen der Erde wieder-
gefundene Vase, die einen Sprung hat. Deswegen kann der Zug
ins Primitive, wie wir ihn momentan erleben, in der gegenwärtigen
ziemlich entliehenen Form nur von kurzer Dauer sein.
Diese zwei Ähnlichkeiten neuer Kunst mit Formen vergangener
Perioden sind, wie leicht zu sehen ist, diametral verschieden. Die erste
ist äußerlich und hat deswegen keine Zukunft. Die zweite ist innerlich
und birgt deswegen den Keim der Zukunft in sich. Nach der Periode
der materialistischen Versuchung, welcher die Seele scheinbar unterlag
und welche sie doch als eine böse Versuchung abschüttelt, kommt die
Seele, durch Kampf und Leiden verfeinert, empor. Gröbere Gefühle,
wie Angst, Freude, Trauer usw., welche auch zu dieser Versuchungs-
periode als Inhalt der Kunst dienen könnten, werden den Künstler wenig
anziehen. Er wird suchen, feinere Gefühle, die jetzt namenlos sind,
zu erwecken. Er lebt selbst ein kompliziertes, verhältnismäßig feines
Leben, und das aus ihm entsprungene Werk wird unbedingt dem
Zuschauer, welcher dazu fähig ist, feinere Emotionen verursachen,
die mit unseren Worten nicht zu fassen sind.
Der Zuschauer heutzutage ist aber selten zu solchen Vibrationen
fähig. Er sucht im Kunstwerk entweder eine reine Naturnachahmung,
die praktischen Zwecken dienen kann (Porträt im gewöhnlichen Sinne
ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
u. dgl.), oder eine Naturnachahmung, die eine gewisse Interpretation
enthält, „impressionistische" Malerei, oder endlich in Naturformen ver-
kleidete Seelenzustände (was man Stimmung nennt) 1 ). Alle diese
Formen, wenn sie wirklich künstlerisch sind, erfüllen ihren Zweck und
bilden (auch im ersten Falle) geistige Nahrung, besonders aber in
dem dritten Falle, wo der Zuschauer einen Mitklang seiner Seele
findet. Freilich kann also ein derartiger Mit- (oder auch Wider-)
Klang nicht leer oder oberflächlich bleiben, sondern die „Stimmung"
des Werkes kann die Stimmung des Zuschauers noch vertiefen — und
verklären. Jedenfalls halten solche Werke die Seele von der Ver-
gröberung ab. Sie erhalten sie auf einer gewissen Höhe, wie der
Stimmschlüssel die Saiten eines Instrumentes. Aber Verfeinerung und
Ausdehnung in Zeit und Raum dieses Klanges bleibt doch einseitig und
erschöpft die mögliche Wirkung der Kunst nicht.
Ein großes, sehr großes, kleineres oder mittelgroßes Gebäude in
verschiedene Räume geteilt. Alle Wände der Räume mit kleinen, großen,
mittleren Leinwändern behängt. Oft mehrere Tausende von Lein-
wändern. Darauf durch Anwendung der Farbe Stücke „Natur" gegeben :
x ) Leider wurde auch dieses Wort, welches die dichterischen Bestrebungen
einer lebendigen Künstlerseele zu bezeichnen hat, mißhandelt und schließlich
verspottet. Gab es je ein großes Wort, welches die Menge nicht sofort zu ent-
heiligen suchte ?
I. EINLEITUNG
Tiere in Licht und Schatten, Wasser trinkend, am Wasser stehend, im
Grase liegend, daneben eine Kreuzigung Christi, von einem Künstler
dargestellt, welcher an Christus nicht glaubt, Blumen, menschliche
Figuren sitzend, stehend, gehend, auch oft nackt, viele nackte Frauen
(oft in Verkürzung von hinten gesehen), Äpfel und silberne Schüsseln,
Porträt des Geheimrats N, Abendsonne, Dame in Rosa, fliegende
Enten, Porträt der Baronin X, fliegende Gänse, Dame in Weiß, Kälber
im Schatten mit grellgelben Sonnenflecken, Porträt Exzellenz Y, Dame
in Grün. Dieses alles ist sorgfältig in einem Buch gedruckt: Namen der
Künstler, Namen der Bilder. Menschen haben diese Bücher in der
Hand und gehen von einer Leinwand zur andern und blättern und
lesen die Namen. Dann gehen sie fort, ebenso arm oder reich, wie sie
eintraten und werden sofort von ihren Interessen, die gar nichts mit
der Kunst zu tun haben, absorbiert. Warum waren sie da? In jedem
Bild ist geheimnisvoll ein ganzes Leben eingeschlossen, ein ganzes
Leben mit vielen Qualen, Zweifeln, Stunden der Begeisterung und des
Lichtes.
Wohin ist dieses Leben gerichtet? Wohin schreit die Seele des
Künstlers, wenn auch sie in der Schaffung tätig war? Was will sie
verkünden? „Licht in die Tiefe des menschlichen Herzens senden —
Künstlers Beruf", sagt Schumann. „Ein Maler ist ein Mensch, welcher
alles zeichnen und malen kann", sagt Tolstoi.
Von diesen zwei Definitionen der Tätigkeit des Künstlers müssen
wir die zweite wählen, wenn wir an die eben beschriebene Ausstellung
denken — mit mehr oder weniger Fertigkeit, Virtuosität und Brio ent-
stehen auf der Leinwand Gegenstände, die zueinander in gröberer oder
ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
feinerer „Malerei" stehen. Die Harmonisierung des Ganzen auf der
Leinwand ist der Weg, welcher zum Kunstwerk führt. Mit kalten
Augen und gleichgültigem Gemüt wird dieses Werk beschaut. Die
Kenner bewundern die „Mache" (so wie man einen Seiltänzer be-
wundert), genießen die „Malerei" (so wie man eine Pastete genießt).
Hungrige Seelen gehen hungrig ab.
Die große Menge schlendert durch die Säle und findet die Lein-
wänder „nett" und „großartig". Mensch, der was sagen könnte, hat zum
Menschen nichts gesagt, und der, der hören könnte, hat nichts gehört.
Diesen Zustand der Kunst nennt man l'art pour l'art.
Dieses Vernichten der innerlichen Klänge, die der Farben Leben ist,
dieses Zerstreuen der Kräfte des Künstlers ins Leere ist „Kunst für
Kunst".
Für seine Geschicklichkeit, Erfindungs- und Empfindungskraft sucht
sich der Künstler in materieller Form den Lohn. Sein Zweck wird
Befriedigung des Ehrgeizes und der Habsucht. Statt einer vertieften
gemeinsamen Arbeit der Künstler entsteht ein Kampf um diese Güter.
Man klagt über zu große Konkurrenz und Überproduktion. Haß, Partei-
lichkeit, Vereinsmeierei, Eifersucht, Intriguen werden zur Folge dieser
zweckberaubten, materialistischen Kunst 1 ).
!) Die wenigen einzeln stehenden Ausnahmen zerstören dieses trostlose,
verhängnisvolle Bild nicht, und auch diese Ausnahmen sind hauptsächlich Künstler,
deren Credo das l'art pour l'art ist. Sie dienen also einem höheren Ideale,
welches im ganzen ein zielloses Zerstreuen ihrer Kraft ist. Äußere Schönheit
ist ein die geistige Atmosphäre bildendes Element. Es hat aber außer der positiven
Seite (da Schönes = Gutes ist) den Mangel des nicht erschöpfend ausgenützten
Talentes — (Talent im Sinne des Evangeliums).
I. EINLEITUNG
Der Zuschauer wendet sich ruhig ab von dem Künstler, der in
einer zweckberaubten Kunst den Zweck seines Lebens nicht sieht,
sondern höhere Ziele vor sich hat.
„Verstehen" ist Heranbildung des Zuschauers auf den Stand-
punkt des Künstlers. Oben wurde gesagt, daß die Kunst das Kind
ihrer Zeit ist. Eine derartige Kunst kann nur das künstlerisch wieder-
holen, was schon die gegenwärtige Atmosphäre klar erfüllt. Diese
Kunst, die keine Potenzen der Zukunft in sich birgt, die also nur das
Kind der Zeit ist und nie zur Mutter der Zukunft heranwachsen wird,
ist eine kastrierte Kunst. Sie ist von kurzer Dauer und stirbt moralisch
in dem Augenblicke, wo die sie gebildet habende Atmosphäre sich
ändert.
Die andere, zu weiteren Bildungen fähige Kunst wurzelt auch in
ihrer geistigen Periode, ist aber zur selben Zeit nicht nur Echo derselben
und Spiegel, sondern hat eine weckende prophetische Kraft,
die weit und tief wirken kann.
Das geistige Leben, zu dem auch die Kunst gehört und in dem sie
eine der mächtigsten Agentien ist, ist eine komplizierte aber bestimmte
und ins Einfache übersetzbare Bewegung vor- und aufwärts. Diese
Bewegung ist die der Erkenntnis. Sie kann verschiedene Formen an-
nehmen, im Grunde behält sie aber denselben inneren Sinn, Zweck.
In Dunkel gehüllt sind die Ursachen der Notwendigkeit, „im
Schweiße des Angesichts", durch Leiden, Böses und Qualen sich vor-
10 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
und aufwärts zu bewegen. Nachdem eine Station erreicht ist und manche
bösen Steine aus dem Wege geschafft sind, werden von einer üblen
unsichtbaren Hand neue Blöcke auf den Weg geworfen, welche manch-
mal scheinbar diesen Weg gänzlich verschütten und unerkennbar machen.
Da kommt aber unfehlbar einer von uns Menschen, der in allem
uns gleich ist, aber eine geheimnisvoll in ihn gepflanzte Kraft des
„Sehens" in sich birgt.
Er sieht und zeigt. Dieser höheren Gabe, die ihm oft ein schweres
Kreuz ist, möchte er sich manchmal entledigen. Er kann es aber nicht.
Unter Spott und Haß zieht er die sich sträubende, in Steinen steckende
schwere Karre der Menschheit mit sich immer vor- und aufwärts.
Oft ist schon lange nichts von seinem körperlichen I ch auf Erden
geblieben, dann sucht man alle Mittel, dieses Körperliche aus Marmor,
Eisen, Bronze, Stein in gigantesken Größen wiederzugeben. Als ob
etwas läge an diesem Körperlichen bei solchen göttlichen Menschen-
dienern und Märtyrern, die das Körperliche verachteten und nur dem
Geistigen dienten. Jedenfalls ist dieses Heranziehen des Marmors
ein Beweis, daß eine größere Menschenmenge zu dem Standpunkt
angelangt ist, wo einst der jetzt Gefeierte stand.
II.
DIE
BEWEGUNG
Ein großes spitzes Dreieck in ungleiche Teile geteilt, mit der
spitzesten, kleinsten Abteilung nach oben gewendet — ist das geistige
Leben schematisch richtig dargestellt. Je mehr nach unten, desto größer,
breiter, umfangreicher und höher werden die Abteilungen des Dreiecks.
Das ganze Dreieck bewegt sich langsam, kaum sichtbar nach vor-
und aufwärts, und wo „heute" die höchste Spitze war, ist „morgen" 1 )
die nächste Abteilung, d. h. was heute nur der obersten Spitze ver-
ständlich ist, was dem ganzen übrigen Dreieck eine unverständliche
Faselei ist, wird morgen zum sinn- und gefühlvollen Inhalt des Lebens
der zweiten Abteilung.
*) Dieses „Heute" und „Morgen" ist im Inneren den biblischen „Tagen"
der Schöpfung ähnlich.
12 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER K UNST
An der Spitze der obersten Spitze steht manchmal allein nur ein
Mensch. Sein freudiges Sehen ist der inneren unermeßlichen Trauer
gleich. Und die, die ihm am nächsten stehen, verstehen ihn nicht.
Entrüstet nennen sie ihn : Schwindler oder Irrenhauskandidaten. So
stand beschimpft zu seinen Lebzeiten auf der Höhe Beethoven allein *).
Wie viele Jahre wurden gebraucht, bis eine größere Abteilung des
Dreiecks an die Stelle gelangte, wo er einst einsam stand. Und trotz
allen Denkmälern — sind denn wirklich viele bis an diese Stelle empor
gestiegen 2 )?
In allen Abteilungen des Dreiecks sind Künstler zu finden. Jeder
von denselben, der über die Grenzen seiner Abteilung hinaufblicken
kann, ist ein Prophet seiner Umgebung und hilft der Bewegung,
der widerspenstigen Karre. Wenn er aber nicht dieses scharfe Auge
besitzt, oder dasselbe aus niedren Zwecken und Gründen mißbraucht
oder schließt, dann wird er von allen seinen Abteilungsgenossen völlig
verstanden und gefeiert. Je größer diese Abteilung ist (also je tiefer
sie gleichzeitig liegt), desto größer ist die Menge, der des Künstlers
Rede verständlich ist. Es ist klar, daß eine jede solche Abteilung
nach dem entsprechenden geistigen Brot bewußt oder (viel öfter)
*) Weber, der Komponist des „Freischütz", meinte von derselben (d. h. die
VII. Symphonie Beethovens) : „Nun haben die Extravaganzen dieses Genius das
Nonplusultra erreicht; Beethoven ist nun ganz reif fürs Irrenhaus." Bei der
spannenden Stelle zu Beginn des ersten Satzes auf pochendem „e" rief Abbe
Stadler, als er sie zum ersten Male hörte, einem Nachbar zu : „Es kommt immer
noch das — „e" — es fällt ihm eb'n nix ein, dem talentlosen Kerl!" („Beethoven"
von August Göllerich, siehe S. 1 in der Serie „Die Musik", herausgegeben von
R. Strauß.)
2 ) Sind nicht manche Denkmäler eine traurige Antwort auf diese Frage?
II. DIE BEWEGUNG 13
gänzlich unbewußt hungert. Dieses Brot wird ihr von ihren Künstlern
gereicht und nach diesem Brot wird morgen schon die nächste Ab-
teilung greifen.
Diese schematische Darstellung erschöpft freilich das ganze Bild
des geistigen Lebens nicht. Unter anderem zeigt sie eine Schatten-
seite nicht, einen großen toten schwarzen Fleck. Es geschieht
eben zu oft, daß das erwähnte geistige Brot zur Nahrung manchen
wird, die schon in einer höheren Abteilung leben. Für solche Esser
wird dieses Brot zu Gift: in kleiner Dosis wirkt es so, daß die Seele
aus einer höheren Abteilung in eine niedere allmählich sinkt; in großer
Dosis genossen, bringt dieses Gift zu einem Sturz, welcher in immer
tiefere und tiefere Abteilungen die Seele wirft. Sienkiewicz vergleicht
in einem seiner Romane das geistige Leben mit Schwimmen : wer
nicht unermüdlich arbeitet und mit dem Sinken fortwährend kämpft,
der geht unfehlbar unter. Hier kann die Begabung eines Menschen,
das „Talent" (im Sinne des Evangeliums) zum Fluch — nicht nur
des dieses Talent tragenden Künstlers, sondern auch für alle diejenigen,
werden, die von diesem giftigen Brot essen. Der Künstler braucht
seine Kraft, um niederen Bedürfnissen zu schmeicheln; in einer angeb-
lichen künstlerischen Form bringt er einen unreinen Inhalt, er zieht
die schwachen Elemente an sich, vermengt sie ständig mit schlechten,
betrügt die Menschen und hilft ihnen, sich zu betrügen, indem sie sich
und andere überzeugen, daß sie geistigen Durst haben, daß sie von der
14 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
reinen Quelle diesen geistigen Durst stillen. Derartige Werke ver-
helfen nicht der Bewegung nach aufwärts, sie hemmen sie, drängen
das Vorwärtsstrebende zurück und verbreiten Pest um sich.
Solche Perioden, in welchen die Kunst keinen hochstehenden
Vertreter hat, in welchen das verklärte Brot ausbleibt, sind Perioden
des Niederganges in der geistigen Welt. Unaufhörlich fallen
Seelen aus höheren Abteilungen in tiefere, und das ganze Dreieck scheint
unbeweglich zu stehen. Es scheint sich ab- und rückwärts zu bewegen.
Die Menschen legen zu diesen stummen und blinden Zeiten einen
besonderen ausschließlichen Wert auf äußerliche Erfolge, sie kümmern
sich nur um materielle Güter und begrüßen einen technischen Fort-
schritt, welcher nur dem Leibe dient und dienen kann, als eine große
Tat. Die rein geistigen Kräfte werden im besten Falle unter-
schätzt, sonst überhaupt nicht bemerkt.
Die vereinsamten Hungerer und Seher werden verspottet oder für
geistig anormal gehalten. Die seltenen Seelen aber, die nicht in
Schlaf gehüllt werden können und dunkles Verlangen nach geistigem
Leben, Wissen und Vorschreiten fühlen, klingen im groben materiellen
Chorus, trostlos und klagend. Die geistige Nacht sinkt allmählich
tiefer und tiefer. Grauer und grauer wird es um solche erschrockene
Seelen, und ihre Träger, von Zweifeln und Angst gepeinigt und ent-
kräftet, ziehen oft diesem allmählichen Verdunkeln um sie den plötz-
lichen, gewaltsamen Sturz ins Schwarze vor.
Die Kunst, die zu solchen Zeiten ein erniedrigtes Leben führt, wird
ausschließlich zu materiellen Zwecken gebraucht. Sie sucht ihren in-
haltlichen Stoff in der harten Materie, da sie die feine nicht kennt.
II. DIE BEWEGUNG 15
Die Gegenstände, die wiederzugeben sie für ihr einziges Ziel hält,
bleiben unverändert dieselben. Das „Was" in der Kunst fällt eo ipso
aus. Nur die Frage, „wie" derselbe körperliche Gegenstand zum
Künstler wiedergegeben wird, bleibt allein da. Diese Frage wird zum
„Credo". Die Kunst ist entseelt.
Auf diesem Wege „Wie" geht die Kunst weiter. Sie spezialisiert
sich, wird nur den Künstlern selbst verständlich, die über Indifferenz
des Zuschauers zu ihren Werken zu klagen anfangen. Da der Künstler
durchschnittlich zu solchen Zeiten nicht viel sagen braucht und schon
durch ein geringes „Anders" bemerkt wird und von gewissen Häuf-
chen Mäzenen und Kunstkennern dadurch hervorgehoben wird (was
weiter eventuell große materielle Güter mitbringt!), so stürzt sich eine
große Menge äußerlich begabter, gewandter Menschen auf die Kunst,
die scheinbar so einfach zu erobern ist. In jedem „Kunstzentrum" leben
Tausende und Abertausende solcher Künstler, von denen die Mehrzahl
nur nach neuer Manier sucht und ohne Begeisterung mit kaltem Herzen,
schlafender Seele Millionen von Kunstwerken schafft.
Die „Konkurrenz" nimmt zu. Das wilde Jagen nach Erfolg macht
die Suche immer äußerlicher. Kleine Gruppen, die sich zufällig aus
diesem Künstler- und Bilderchaos durchgearbeitet haben, verschanzen
sich in ihren eroberten Stätten. Das zurückgebliebene Publikum schaut
verständnislos zu, verliert das Interesse für eine derartige Kunst und
dreht ihr ruhig den Rücken.
16 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Aber trotz aller Verblendung, trotz diesem Chaos und dem wilden
Jagen bewegt sich in Wirklichkeit langsam, aber sicher, mit unüber-
windlicher Kraft das geistige Dreieck vor- und aufwärts.
Der unsichtbare Moses kommt vom Berge, sieht den Tanz um
das goldene Kalb. Aber doch bringt er eine neue Weisheit mit sich
zu den Menschen.
Seine für Massen unhörbare Sprache wird zuerst doch vom Künst-
ler gehört. Erst unbewußt für sich selbst nicht bemerklich, folgt er
dem Rufe. Schon in derselben Frage „Wie" liegt ein verborgener
Kern der Genesung. Wenn dieses „Wie" auch im großen und ganzen
fruchtlos bleibt, so ist doch im selben „Anders" (was wir auch noch
heute „Persönlichkeit" nennen) eine Möglichkeit vorhanden, nicht das
rein harte Materielle allein am Gegenstände zu sehen, sondern auch
noch das, was weniger körperlich als der Gegenstand der realistischen
Periode ist, den man allein und „so wie er ist", „ohne zu phanta-
sieren" wiederzugeben versuchte 1 ).
Wenn weiter dieses „Wie" auch die Seelenemotion des Künstlers
einschließt und fähig ist, sein feineres Erlebnis auszuströmen, so stellt
sich schon die Kunst an die Schwelle des Weges, auf welchem. sie
x ) Es ist hier oft die Rede vom Materiellen und Nichtmateriellen und von
den Zwischenzuständen, die „mehr oder weniger" materiell bezeichnet werden.
Ist alles Materie? Ist alles Geist? Können die Unterschiede, die wir zwischen
Materie und Geist legen, nicht nur Abstufungen nur der Materie sein oder nur
des Geistes? Der als Produkt des „Geistes" in positiver Wissenschaft bezeichnete
Gedanke ist auch Materie, die aber nicht groben, sondern feinen Sinnen fühlbar
ist. Was die körperliche Hand nicht betasten kann, ist das Geist? In dieser
kleinen Schrift kann nicht darüber weiter geredet werden, und es genügt, wenn
keine zu scharfen Grenzen gezogen werden.
II. DIE BEWEGUNG 17
später unfehlbar das verlorne „Was" wiederfindet, das „Was", welches
das geistige Brot des jetzt beginnenden geistigen Erwachens bilden wird.
Dieses „Was" wird nicht mehr das materielle, gegenständliche „Was"
der hintengebliebenen Periode sein, sondern ein künstlerischer
Inhalt, die Seele der Kunst, ohne welche ihr Körper (das „Wie")
nie ein volles gesundes Leben führen kann, ebenso wie der einzelne
Mensch oder ein Volk.
Dieses Was ist der Inhalt, welchen nur die Kunst
in sich fassen kann, und welchen nur die Kunst zum
klaren Ausdruck bringen kann durch die nur ihr ge-
hörenden Mittel.
Kandinsky, Über das Geistige in der Kunsl
,
III.
GEISTIGE WENDUNG
Das geistige Dreieck bewegt sich langsam nach vor- und aufwärts.
Heute erreicht eine der untersten größten Abteilungen die ersten Schlag-
worte des materialistischen „Credo" — religiös führen ihre Einwohner
verschiedene Titel. Sie heißen Juden, Katholiken, Protestanten usw.
In Wirklichkeit sind sie Atheisten, was einige der Kühnsten oder Be-
schränktesten auch offen bekennen. Der „Himmel" ist entleert. „Oott
ist gestorben". Politisch sind diese Einwohner Volksvertretungsan-
hänger oder Republikaner. Die Angst, den Abscheu und Haß, welchen
sie gestern gegen diese politischen Ansichten hegten, haben sie heute
auf die Anarchie übertragen, die sie nicht kennen und von welcher
ihnen nur der schreckeinflößende Name bekannt ist. ökonomisch sind
diese Menschen - Sozialisten. Sie schärfen das Schwert der Qerech-
III. GEISTIGE WENDUNG 19
tigkeit, um der kapitalistischen Hydra den tödlichen Hieb zu versetzen
und das Haupt des Übels abzuhauen.
Da diese Einwohner dieses großen Abteiles des Dreiecks nie selb-
ständig zur Lösung einer Frage gekommen sind und stets in der mensch-
lichen Karre durch sich selbst opfernde Mitmenschen, die stets hoch
über ihnen standen, gezogen wurden, ^so wissen sie nichts von diesem
Schieben, welches sie stets nur aus großer Entfernung beobachtet haben.
Sie stellen sich deswegen das Schieben sehr leicht vor und glauben an
einwandfreie Rezepte und an unfehlbar wirkende Mittel.
Die folgende tieferliegende Abteilung wird von der oben beschrie-
benen blindlings auf diese Höhe gezogen. Hält sie aber noch fest an
der alten Stelle, sträubt sich vor Angst, ins Unbekannte zu geraten,
um nicht betrogen zu werden.
Die höheren Abteilungen sind religiös nicht nur blind atheistisch,
sondern sie können ihre Gottlosigkeit durch fremde Worte begründen
(z. B. Virchows eines Gelehrten nicht würdigen Satz: Ich habe viele /
Leichen seziert und nie dabei eine Seele entdeckt.) Politisch sind sie <
noch öfter Republikaner, kennen verschiedene parlamentarische Bräuche,
lesen in den Zeitungen die politischen Leitartikel. Ökonomisch sind sie
Sozialisten verschiedener Nuancen und können ihre „Überzeugungen"
durch viele Zitate unterstützen. (Von Schweitzers „Emma", durch das
„Eherne Gesetz" von Lasalle, zum Marxschen „Kapital" und noch viel
weiter.)
In diesen höheren Abteilungen kommen allmählich noch andere
Rubriken vor, die in den eben beschriebenen fehlten : Wissenschaft
und Kunst, wozu auch Literatur und Musik gehören.
v
20 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Wissenschaftlich sind diese Menschen Positivisten und anerkennen
nur das, was gewogen, gemessen werden kann. Das übrige halten sie
für denselben manchmal schädlichen Unsinn, für welchen sie gestern
die heute „erwiesenen" Theorien hielten.
In der Kunst sind sie Naturalisten, wobei sie bis zu einer gewissen
Grenze, die von anderen gezogen wurde und an die sie deswegen uner-
schütterlich glauben, Persönlichkeit, Individualität und Temperament
des Künstlers anerkennen und auch schätzen.
In diesen höheren Abteilungen ist trotz der sichtbar großen Ord-
nung, Sicherheit und trotz den Prinzipien, die unfehlbar sind, jedoch
eine versteckte Angst zu finden, eine Verwirrung, ein Wackeln und
eine Unsicherheit, wie in den Köpfen der Passagiere eines großen, festen
überseeischen Dampfers, wenn auf der hohen See bei in Nebeln ver-
schwundenem festen Land sich schwarze Wolken sammeln und der
düstere Wind das Wasser zu schwarzen Bergen auftürmt. Und dies
ist dank ihrer Bildung. Sie wissen, daß der heute angebetete Gelehrte,
Staatsmann, Künstler noch gestern ein ausgespotteter, keines ernsten
Blickes würdiger Streber, Schwindler, Pfuscher war.
Und je höher in dem geistigen Dreieck, desto sichtbarer tritt mit
ihren scharfen Kanten diese Angst, die Unsicherheit zutage. Erstens
finden sich hier und da Augen, die auch selbst sehen können, Köpfe,
die zu Zusammenstellungen fähig sind. Derartig begabte Menschen
III. GEISTIGE WENDUNG 21
fragen sich : Wenn diese Weisheit von vorgestern durch diese von
gestern und die letztere von der von heute umgeworfen wurde —
kann es dann nicht auch irgendwie möglich sein, daß die von heute
von der von morgen auch umgeschmissen wird. Und die Mutigsten
von ihnen antworten : „Es liegt im Bereiche der Möglichkeiten."
Zweitens finden sich Augen, die das sehen können, was von der
heutigen Wissenschaft „noch nicht erklärt" wurde. Derartige Men-
schen fragen sich : „Wird die Wissenschaft auf dem Wege, auf welchem
sie schon lange sich bewegt, zur Lösung dieser Rätsel kommen? Und
wenn sie dazu kommt, wird man sich auf ihre Antwort verlassen
können?"
In diesen Abteilungen befinden sich auch professionelle Gelehrte,
welche sich erinnern können, wie jetzt feststehende, von Akademien
anerkannte Tatsachen von denselben Akademien im Anfang begrüßt
wurden. Hier befinden sich auch Kunstgelehrte, die anerkennungsvolle
tiefsinnige Bücher schreiben über die Kunst, die gestern unsinnig war.
Durch diese Bücher nehmen sie die Schranken weg, über welche die
Kunst ihren Sprung längst gemacht hat und stellen neue auf, die diesmal
fest und für alle Zeiten auf dem neuen Platze bleiben sollen. Bei dieser
Beschäftigung merken sie nicht, daß sie die Schranken nicht vor, son-
dern hinter der Kunst bauen. Wenn sie es morgen bemerken, so
schreiben sie neue Bücher und verlegen geschwind ihre Schranken
weiter. Und diese Beschäftigung wird so lange ohne Veränderung
bleiben, bis eingesehen wird, daß das äußere Prinzip der Kunst nur
für die Vergangenheit gelten kann und nie für die Zukunft. Es kann
keine Theorie dieses Prinzips für den weiteren im Reiche des Nicht-
22 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
materiellen liegenden Weg geben. Es kann sich materiell nicht kristalli-
sieren das, was materiell noch nicht existiert. Der in das Reich von
morgen führende Geist kann nur durch Gefühl (wozu das Talent des
Künstlers die Bahn ist) erkannt werden. Die Theorie ist die Laterne,
die die kristallisierten Formen des Gestern und des vor dem Gestern
liegenden beleuchtet. (Siehe Weiteres darüber in Kap. VII. Theorie.)
Und wenn wir noch höher steigen, so sehen wir noch größere
Verwirrung, wie in einer großen, fest nach allen architektonisch mathe-
matischen Regeln gebauten Stadt, welche plötzlich von einer unermeß-
baren Kraft geschüttelt wird. Die Menschen, die hier leben, leben
wirklich in so einer geistigen Stadt, wo plötzlich solche Kräfte wirken,
mit welchen die geistigen Architekten und Mathematiker nicht gerechnet
haben. Hier ist ein Teil von der dicken Mauer wie ein Kartenhäus-
chen gefallen. Da liegt ein zum Himmel reichender, kolossaler, aus
vielen spitzenartigen, aber „unsterblichen" geistigen Pfeilern gebauter
Turm in Trümmern. Der alte vergessene Friedhof bebt. Alte vergessene
Gräber öffnen sich, und vergessene Geister heben sich aus ihnen. Die
so kunstvoll gezimmerte Sonne zeigt Flecken und verfinstert sich und
wo ist der Ersatz zum Kampf mit der Finsternis?
In dieser Stadt leben auch taube Menschen, die fremde Weisheit
betäubt hat, die keinen Sturz hören, die auch blind sind, da sie fremde
Weisheit geblendet hat, und die sagen : Unsere Sonne wird immer
heller, und bald sehen wir die letzten Flecken verschwinden. Aber auch
diese Menschen werden hören und sehen.
III. GEISTIGE WENDUNG 23
Und noch höher ist keine Angst mehr zu finden. Da geht eine
Arbeit, die kühn an den von den Menschen gestellten Pfeilern rüttelt.
Hier finden wir auch professionelle Gelehrte, die die Materie wieder
und wieder prüfen, die keine Angst haben, vor keiner Frage, und die
endlich die Materie, auf welcher noch gestern alles ruhte und das ganze
Weltall gestützt wurde, in Zweifel stellen. Die Theorie der Elektronen,
d. h. der bewegten Elektrizität, die die Materie vollständig ersetzen soll,
findet momentan kühne Konstruktoren, die hier und da über die Grenze
der Vorsicht gehen und an der Eroberung der neuen wissenschaftlichen
Burg zugrunde gehen, wie sich vergessende, sich den andern opfernde
Soldaten bei dem verzweifelten Sturm einer hartnäckigen Festung.
Aber — „es gibt keine Festung, die man nicht nehmen kann".
Andererseits vermehren sich oder werden nur öfter bekannt solche
Tatsachen, die die gestrige Wissenschaft mit dem gewohnten Wort
„Schwindel" begrüßte. Sogar Zeitungen, diese größtenteils gehor-
samsten Diener des Erfolgs und der Plebs, die den Handel mit „was ihr
wollt" treiben, finden sich gezwungen, in manchen Fällen den ironischen
Ton ihrer Berichte der „Wunder" zu beschränken und auch gar zu
unterlassen. Verschiedene Gelehrte, unter welchen sich reinste Ma-
terialisten befanden, widmen ihre Kräfte der wissenschaftlichen Unter-
24 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
suchung der rätselhaften Tatsachen, die nicht mehr zu leugnen, nicht
mehr zu verschweigen sind 1 ).
Andererseits endlich mehrt sich die Anzahl der Menschen, welche
keine Hoffnung setzen auf die Methoden der materialistischen Wissen-
schaft in Fragen, die mit „Nichtmaterie" oder einer Materie zu tun
haben, die unseren Sinnen nicht zugänglich sind. Und ebenso wie in
der Kunst, welche bei den Primitiven Hilfe sucht, wenden sich diese
Menschen halbvergessenen Zeiten zu mit ihren halbvergessenen Me-
thoden, um da Hilfe zu finden. Diese Methoden sind aber noch lebendig
bei Völkern, auf welche wir von der Höhe unserer Kenntnisse mitleidig
und verächtlich zu schauen gewohnt waren.
Zu diesen Völkern gehören z. B. die Inder, welche von Zeit zu
Zeit rätselhafte Tatsachen vor die Augen der Gelehrten unserer Kultur
J ) Zöllner, Wagner, Butleroff - Petersburg , Crookes - London usw. Später
Ch. Richet. C. Flammarion (sogar der Pariser „Matin" hat die Äußerungen des
letzteren unter dem Titel „Je le constate, mais je ne l'explique pas" vor etwa
zwei Jahren gebracht). Endlich C. Lombroso, der Schöpfer der anthropologischen
Methode in der Frage des Verbrechens, geht mit Eusapia Palladino zu gründlichen
spiritistischen Sitzungen über und anerkennt die Phänomene. Außer noch an-
deren Gelehrten, die auf eigene Faust sich solchen Studien widmen, bilden sich
allmählich ganze wissenschaftliche Vereine und Gesellschaften, die dieselben Zwecke
verfolgen (z. B. Societe des Etudes psychiques in Paris, die sogar Berichtreisen
in Frankreich veranstaltet, um das Publikum mit den von ihr erzielten Resultaten
in einer durchaus objektiven Form bekannt zu machen).
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III. GEISTIGE WENDUNG 25
stellen, Tatsachen, die entweder nicht beachtet wurden oder welche man
wie lästige Fliegen durch oberflächliche Erklärungen und Worte 1 )
zu scheuchen versuchte. Die Frau H. P. Blawatzky war wohl die erste,
die nach langjährigen Aufenthalten in Indien ein festes Band zwischen
diesen „Wilden" und unserer Kultur gebunden hat. Von hier ab beginnt
in dieser Beziehung eine der größten geistigen Bewegungen, die heute
eine große Anzahl von Menschen vereinigt und sogar eine materielle
Form dieser geistigen Einigung in „Theosophischer Gesellschaft" ge-
bildet hat. Diese Gesellschaft besteht aus Logen, die auf dem Wege
der inneren Erkenntnis sich den Problemen des Geistes zu nähern
versuchen. Ihre Methoden, die einen vollen Gegensatz zu den positiven
bilden, sind im Ausgangspunkte dem schon Dagewesenen entliehen und
werden wieder in eine verhältnismäßig präzise Form gebracht 2 ).
Die theosophische Theorie, die zum Grund dieser Bewegung dient,
wurde von Blawatzky aufgestellt in einer katechismusartigen Form, wo
der Schüler präzise Antworten des Theosophen auf seine Fragen be-
kommt 3 ). Theosophie ist nach den Worten Blawatzkys gleichbedeutend
mit ewig währender Wahrheit. (S. 248). „Ein neuer Sendbote
der Wahrheit wird von der theosophischen Gesellschaft die Menschheit
für seine Botschaft vorbereitet finden : es wird eine Ausdrucksform
x ) Sehr häufig wird in solchen Fällen das Wort Hypnose gebraucht, dieselbe
Hypnose, welcher in ihrer ersten Form des Mesmerismus verschiedene Akademien
verächtlich den Rücken kehrten.
2 ) Siehe z. B. Dr. Steiners „Theosophie" und seine Artikel in „Lucifer-Gnosis"
über Erkenntnispfade.
*) H. P. Blawatzky: Der Schlüssel der Theösophie. Leipzig, Max Altmann
1907. Das Buch erschien in englischer Sprache in London 1889.
26 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
geben, in die er die neuen Wahrheiten wird kleiden können, eine Or-
ganisation, die in einer gewissen Beziehung seine Ankunft erwartet,
um dann die materiellen Hindernisse und Schwierigkeiten von seinem
Wege hinwegzuheben" (S. 250). Und da nimmt Blawatzky an, „daß
im einundzwanzigsten Jahrhundert die Erde ein Himmel sein werde im
Vergleich zu dem, was sie gegenwärtig ist" — damit schließt sie ihr
Buch.
Und jedenfalls, wenn auch die Neigung der Theosophen zur Schaf-
fung einer Theorie, und die etwas voreilige Freude, bald Antwort auf
die Stelle des ewigen immensen Fragezeichens stellen zu können,
leicht den Beobachter etwas skeptisch stimmen kann, so bleibt doch
die große, doch geistige Bewegung da, welche in der geistigen
Atmosphäre ein starkes Agens ist und die auch in dieser Form als
Erlösungsklang zu manchem verzweifelten in Finsternis und Nacht
gehüllten Herzen gelangen wird, doch erscheint damit eine Hand,
die zeigt und Hilfe bietet.
Wenn die Religion, Wissenschaft und Moral (die letzte durch die
starke Hand Nietzsches) gerüttelt werden, und wenn die äußeren
Stützen zu fallen drohen, wendet der Mensch seinen Blick von der
Äußerlichkeit ab und sich selbst zu.
Die Literatur, Musik und Kunst sind die ersten empfindlichsten
Gebiete, wo sich diese geistige Wendung bemerkbar macht in realer
III. GEISTIGE WENDUNG 27
Form. Diese Gebiete spiegeln das düstere Bild der Gegenwart sofort
ab, sie erraten das Große, was erst als ein kleines Pünktchen nur von
wenigen bemerkt wird und für die große Menge nicht existiert.
Sie spiegeln die große Finsternis, die erst kaum angedeutet hervor-
tritt. Sie verfinstern sich selbst und verdüstern sich. Andererseits
wenden sie sich ab von dem seelenberaubten Inhalt des gegenwärtigen
Lebens und wenden sich zu Stoffen und Umgebungen, die freie Hand
lassen dem nichtmateriellen Streben und Suchen der dürstenden Seele.
Einer von solchen Dichtern auf dem Gebiete der Literatur
ist Maeterlink. Er führte uns in die Welt, die man phantastisch oder
richtiger übersinnlich nennt. Seine Princesse Maleine, Sept Princesses,
Les Aveugles usw. usw. sind keine Menschen vergangener Zeiten,
wie uns die stilisierten Helden Shakespeares vorkommen. Es sind
direkt Seelen, die in Nebeln suchen, von Nebeln erstickt zu werden
bedroht sind, über welchen eine unsichtbare, düstere Macht schwebt.
Die geistige Finsternis, Unsicherheit des Nichtwissens und die Angst
vor demselben sind die Welt seiner Helden. So ist Maeterlink vielleicht
einer der ersten Propheten, der ersten künstlerischen Berichterstatter
und Hellseher des oben beschriebenen Niederganges. Die Verdüsterung
der geistigen Atmosphäre, die zerstörende und gleichzeitig führende
Hand, und die verzweifelte Angst vor ihr, der verlorene Weg, der
vermißte Führer spiegeln sich deutlich in diesen Werken 1 ).
*) Zu solchen Hellsehern des Niederganges gehört in der ersten Linie auch
Alfred Kubin. Mit unüberwindlicher Gewalt wird man in die schauerliche Atmo-
sphäre der harten Leere hineingezogen. Diese Gewalt entströmt den Zeichnungen
Kubins ebenso wie seinem Roman „Die andere Seite".
28 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Diese Atmosphäre bildet er hauptsächlich durch reinkünstlerische
Mittel, wobei die materiellen Mittel (düstere Burgen, Mondnächte,
Sümpfe, Wind, Eulen usw.) eine mehr symbolische Rolle spielen und
mehr als innerer Laut angewendet werden 1 ).
Das Hauptmittel von Maeterlink ist die Anwendung des Wortes.
Das Wort ist ein innerer Klang. Dieser innere Klang
entspringt teilweise (vielleicht hauptsächlich) dem Gegenstand, welchem
das Wort zum Namen dient. Wenn aber der Gegenstand nicht selbst
gesehen wird, sondern nur sein Name gehört wird, so entsteht im
Kopfe des Hörers die abstrakte Vorstellung, der dematerialisierte Gegen-
stand, welcher im „Herzen" eine Vibration sofort hervorruft. So ist
der grüne, gelbe, rote Baum auf der Wiese nur ein materieller
Fall, eine zufällige materialisierte Form des Baumes, welchen wir
in uns fühlen, wenn wir das Wort Baum hören. Geschickte An-
J ) Als in Petersburg unter Maeterlinks eigener Leitung einige von seinen
Dramen aufgeführt wurden, ließ er selbst bei einer Probe, um einen fehlenden
Turm zu ersetzen, einfach ein Stück Leinwand hängen. Es war ihm nicht wichtig,
eine fein nachgeahmte Kulisse verfertigen zu lassen. Er tat so wie die Kinder,
die größten Phantasten aller Zeiten, immer in ihren Spielen tun, wenn sie einen
Stock für ein Pferd ansehen oder aus bekannten Papierkrähen ganze Regimenter
Kavallerie in ihrer Phantasie machen, wobei ein Kniff in der Krähe plötzlich aus
einem Kavalleristen ein Roß bildet (Kügelgen: „Erinnerungen eines alten Mannes").
Dieser Zug zur Anregung der Phantasie des Zuschauers spielt im jetzigen Theater
eine große Rolle. In dieser Beziehung hat besonders viel gearbeitet und erreicht
die russische Bühne. Dies ist ein nötiger Übergang vom Materiellen zum Geistigen
des Theaters der Zukunft.
III. GEISTIGE WENDUNG 29
wendung (nach dichterischem Gefühl) eines Wortes, eine inner-
lich nötige Wiederholung desselben zweimal, dreimal, mehrere Male
nacheinander, kann nicht nur zum Wachsen des inneren Klanges führen,
sondern noch andere nicht geahnte geistige Eigenschaften des Wortes
zutage bringen. Schließlich bei öfterer Wiederholung des Wortes (be-
liebtes Spiel der Jugend, welches später vergessen wird) verliert es
den äußeren Sinn der Benennung. Ebenso wird sogar der abstrakt ge-
wordene Sinn des bezeichneten Gegenstandes vergessen und nur der
reine Klang des Wortes entblößt. Diesen „reinen" Klang hören wir
vielleicht unbewußt auch im Zusammenklange mit dem realen oder
später abstrakt gewordenen Gegenstande. Im letzten Falle aber tritt
dieser reine Klang in den Vordergrund und übt einen direkten Druck
auf die Seele aus. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration,
die noch komplizierter, ich möchte sagen „übersinnlicher" ist, als eine
Seelenerschütterung von einer Glocke, einer klingenden Saite, einem
gefallenen Brette usw. Hier öffnen sich große Möglichkeiten für die
Zukunftsliteratur. In embryonaler Form wird diese Kraft des Wortes,
z. B. schon in den „Serres chaudes" angewendet. In Maeterlinks An-
wendung klingt deswegen düster ein Wort, welches auf den ersten
Eindruck neutral erscheint. Ein einfaches, gewohntes Wort (wie z. B.
Haare) kann in richtig gefühlter Anwendung die Atmosphäre von
Trostlosigkeit, Verzweiflung verbreiten. Und dies ist das Mittel Maeter-
links. Er zeigt den Weg, auf welchem man bald sieht, daß Donner,
Blitz und Mond hinter jagenden Wolken äußerliche materielle Mittel
sind, welches auf der Bühne noch mehr wie in der Natur „dem
schwarzen Mann" der Kinder gleichen. Wirkliche innere Mittel ver-
/
30 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Heren nicht so leicht ihre Kraft und Wirkung 1 ). Und das Wort,
welches also zwei Bedeutungen hat — die erste direkte und zweite
innere — , ist das reine Material der Dichtung und der Literatur,
das Material, welches nur diese Kunst anwenden kann, und durch
welches sie zur Seele spricht.
Etwas Ähnliches tat in der Musik R. Wagner. Sein berühmtes
Leitmotiv ist ebenso eine Bestrebung, den Helden nicht nur durch
theatralische Ausrüstungen, Schminken und Lichteffekte zu charak-
terisieren, sondern durch ein gewisses, präzises Motiv, also durch
ein rein musikalisches Mittel. Dieses Motiv ist eine Art mu-
sikalisch ausgedrückter geistiger Atmosphäre, die dem Helden voraus-
geht, die er also auf Entfernung geistig ausströmt*).
Die modernsten Musiker, wie Debussy, bringen geistige Im-
pressionen, die sie oft aus der Natur entnehmen und in rein musi-
kalischer Form in geistige Bilder verwandeln. Gerade Debussy wird
deswegen oft mit den Impressionisten-Malern verglichen, indem man
behauptet, daß er diesen Malern gleich in großen persönlichen Zügen
die Naturerscheinungen zum Zweck seiner Stücke macht. Die Wahrheit,
die in dieser Behauptung liegt, ist nur ein Beispiel dafür, daß ver-
schiedene Künste zu unserer Zeit beieinander lernen und in Zielen
T ) Dieses tritt klar zutage bei Vergleich der Werke Maeterlinks und Poes.
Und dies ist wieder ein Beispiel für das Fortschreiten auch der künstlerischen
Mittel vom Materiellen zum Abstrakten.
2 ) Viele Versuche haben gezeigt, daß eine derartige geistige Atmosphäre
nicht nur Helden, sondern jedem Menschen zugute kommt. Die Sensitiven kön-
nen z. B. nicht im Zimmer bleiben, wo vorher ein Mensch war, welcher ihnen
geistig widerwärtig ist, wenn sie von dessen Anwesenheit auch nichts wußten.
III. GEISTIGE WENDUNG 3J[
oft einander gleichen. Es wäre aber kühn zu behaupten, daß in der
gebrachten Definierung Debussys Bedeutung erschöpfend dargestellt
ist. Trotz dem Berührungspunkt mit den Impressionisten ist der Drang
dieses Musikers zum inneren Inhalt dermaßen stark, daß man in
seinen Werken sofort die gesprungen klingende Seele des Gegen-
wärtigen erkennt mit allen peinigenden Leiden und erschütterten Nerven.
Und andererseits braucht Debussy auch in den „impressionistischen"
Bildern nie eine ganze materielle Note, die das Charakteristische der
Programmusik ist, sondern bleibt bei der Ausnützung des inneren
Wertes der Erscheinung. ~-/-^ V-&J? f 4 *S
Einen großen Einfluß auf Debussy hat die russische Musik gehabt
(Mussorgsky). So ist es nicht verwunderlich, daß er eine gewisse
Verwandtschaft mit den jungen russischen Komponisten hat, zu welchen
in erster Linie Skrjabin gerechnet werden muß. Es ist ein verwandter
innerer Klang in den Kompositionen der beiden. Und derselbe Fehler
verstimmt oft den Zuhörer. D. h. manchmal werden beide Kom-
ponisten ganz plötzlich aus dem Bereiche der „neuen" „Häßlichkeiten"
herausgerissen und folgen dem Reize der mehr oder weniger konven-
tionellen „Schönheit". Der Zuhörer fühlt sich oft im wirklichen Sinne
beleidigt, da er wie ein Tennisball fortwährend über das Netz ge-
schleudert wird, über das Netz, welches die zwei gegnerischen Par-
teien trennt: die Partei des äußeren „Schönen" und die des inneren
„Schönen". Dieses innere Schöne ist das Schöne, welches mit Verzicht
auf das gewohnte Schöne aus befehlender innerer Notwendigkeit an-
gewendet wird. Dem nicht daran Gewöhnten erscheint natürlich
dieses innere Schöne häßlich, da der Mensch im allgemeinen zum
32 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Äußeren neigt und nicht gerne die innere Notwendigkeit erkennt. (Und
das ganz besonders heute!) Mit diesem vollen Verzicht auf das ge-
wohnte Schöne, alle Mittel, die zum Zwecke der Selbstäußerung führen,
heilig heißend, geht heute noch allein, nur von wenigen begeistert
anerkannt, der Wiener Komponist Arnold Schönberg. Dieser „Reklame-
macher", „Schwindler" und „Pfuscher" sagt in seiner Harmonielehre:
„ . . . jeder Zusammenklang, jede Fortschreitung ist möglich. Ich
fühle aber bereits heute, daß es auch hier gewisse Bedingungen gibt,
von denen es abhängt, ob ich diese oder jene Dissonanz verwende" 1 ).
Hier fühlt Schönberg genau, daß die größte Freiheit, welche die
freie und unbedingte Atmungsluft der Kunst ist, nicht absolut sein
kann. Jeder Epoche ist ein eigenes Maß dieser Freiheit gemessen.
Und über die Grenzen dieser Freiheit vermag die genialste Kraft
nicht zu springen. Aber dieses Maß muß jedenfalls erschöpft werden
und wird jedesmal erschöpft. Es mag die widerspenstige Karre sich
sträuben wie sie will! Diese Freiheit zu erschöpfen sucht auch Schön-
berg, und auf dem Wege zum innerlich Notwendigen hat er schon
Goldgruben der neuen Schönheit entdeckt. Schönbergsche Musik
führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse
keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die
„Zukunftsmusik".
Nach den idealistischen Idealen kommen die diese ablösenden im-
pressionistischen Bestrebungen in der Malerei. Die letzteren enden
x ) „Die Musik", X, 2, S. 104. Auszug aus der „Harmonielehre" (Verlag
der „Universal Edition").
Dürer. Beweinung Christi
III. GEISTIGE WENDUNG 33
in ihrer dogmatischen Form und rein naturalistischen Zielen in der
Theorie des Neo-Impressionismus, welcher zur selben Zeit ins Ab-
strakte greift : Seine Theorie ist (eine von ihm als universal angesehene
Methode), nicht das zufällige Stück Natur auf Leinwand zu fixieren,
sondern die ganze Natur in ihrer Glanz- und Prachterscheinung zu
bringen 1 ).
Ziemlich zur selben Zeit bemerken wir drei ganz andere Erschei-
nungen: 1. Rosetti und seinen Schüler Burne-Jones mit der Reihe ihrer
Nachfolger, 2. Böcklin mit dem von ihm entsprungenen Stuck und ihren
Nachfolgern und 3. Segantini, dem auch die formellen Nachahmer
eine nichtswürdige Schleppe bilden.
Gerade diese drei Namen wurden gewählt als Charakteristik des
Suchens auf nicht materiellen Gebieten. Rosetti wandte sich zu den
Präraffaeliten und suchte ihre abstrakten Formen wieder zum Leben
zu bringen. Böcklin ging auf das Gebiet des Mythologischen und des
Märchenhaften, wobei er im Gegensatz zu Rosetti in stark entwickelte
materielle körperliche Formen seine abstrakten Gestalten kleidete. Se-
gantini, der in dieser Reihe äußerlich der materiellste ist, nahm ganz
fertige Naturformen, die er manchmal ins kleinste durcharbeitete (z. B.
Bergketten, auch Steine, Tiere usw.), und immer verstand er, trotz
der sichtbar materiellen Form, abstrakte Gestalten zu schaffen, wo-
durch er innerlich vielleicht der unmateriellste dieser Reihe ist.
Das sind die Sucher des Inneren im Äußeren.
Auf eine andere Art, die den reinen malerischen Mitteln
!) Siehe z. B. Signac: „De Delacroix au Neo-impressionisme". (Deutsch
erschienen im Verlag Axel Juncker, Charlottenburg 1910).
Kandinskv, Ober das Geistige in der Kunst 3
34 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
näher steht, ging zu ähnlicher Aufgabe der Sucher des neuen Ge-
setzes der Form - Cezanne. Er verstand aus einer Teetasse ein
beseeltes Wesen zu schaffen oder richtiger gesagt, in dieser Tasse ein
Wesen zu erkennen. Er hebt die „nature morte" zu einer Höhe, wo
die äußerlich „toten" Sachen innerlich lebendig werden. Er behandelt
diese Sachen ebenso wie den Menschen, da er das innere Leben
überall zu sehen begabt war. Er bringt sie zu farbigem Ausdruck,
welcher eine innere malerische Note bildet und preßt sie in
die Form, welche zu abstrakt klingenden, Harmonie ausstrahlenden, oft
mathematischen Formeln heraufgezogen werden. Nicht ein Mensch,
nicht ein Apfel, nicht ein Baum werden dargestellt, sondern das alles
wird von Cezanne gebraucht zur Bildung einer innerlich malerisch
klingenden Sache, die Bild heißt. So nennt auch schließlich seine
Werke einer der größten neuesten Franzosen — Henri Matisse.
Er malt „Bilder" und in diesen „Bildern" sucht er das „Göttliche"
wiederzugeben 1 ). Um dieses zu erreichen, braucht er keine anderen
Mittel, als den Gegenstand (Mensch oder sonst etwas) als Aus-
gangspunkt und die der Malerei und nur ihr eigenen Mittel —
Farbe und Form.
Durch rein persönliche Eigenschaften geleitet, als Franzose speziell
und vorzüglich koloristisch begabt, legt Matisse Schwerpunkt und
Übergewicht auf die Farbe. Ebenso wie Debussy kann er sich lange
nicht immer von der gewohnten Schönheit befreien : der Impressionis-
mus rollt ihm im Blut. So trifft man bei Matisse unter Bildern, die
von großer innerer Lebendigkeit sind, von dem Zwange der inneren
!) Siehe seinen Artikel in „Kunst und Künstler" 1909, Heft VIII.
III. GEISTIGE WENDUNG 35
Notwendigkeit hervorgerufen, auch andere Bilder, die, hauptsächlich
durch äußere Anregung, äußere Reize entstanden (wie oft denkt man
da an Manet!), hauptsächlich oder ausschließlich nur das äußere
Leben besitzen. Hier wird die spezifisch französische verfeinerte, gour-
mante, rein melodisch klingende Schönheit der Malerei auf eine über
Wolken stehende kühle Höhe gezogen.
Nie unterliegt diesem Schönen der andere große Pariser, der
Spanier Pablo Picasso. Immer durch Selbstäußerungszwang ge-
führt, oft stürmisch hingerissen, wirft sich Picasso von einem äußeren
Mittel zum anderen. Wenn eine Kluft zwischen diesen Mitteln liegt,
so macht Picasso einen tollen Sprung, und da steht er auf der anderen
Seite zum Entsetzen seiner unmenschlich dichten Schar der Nachfolger.
Gerade wähnten sie ihn erreicht zu haben. Nun muß wieder das müh-
same Hinab und Hinauf beginnen. So entstand die letzte „französische"
Bewegung des Cubismus, über welche im Teil II ausführlich ge-
sprochen wird. Picasso sucht durch Zahlenverhältnisse das Konstruk-
tive zu erreichen. In seinen letzten Werken (1911) kommt er auf lo-
gischem Wege zur Vernichtung des Materiellen, nicht aber durch
Auflösung desselben, sondern durch eine Art Zerstückelung der ein-
zelnen Teile und konstruktive Zerstreuung dieser Teile auf dem Bild.
Dabei scheint er aber merkwürdigerweise den Schein des Materiellen
beibehalten zu wollen. Picasso scheut vor keinem Mittel zurück, und
wenn ihn die Farbe im Problem der rein zeichnerischen Form stört, so
wirft er sie über Bord und malt ein Bild mit Braun und Weiß. Diese
Probleme sind auch seine Hauptkraft. Matisse — Farbe. Picasso— Form.
Zwei große Weisungen auf ein großes Ziel.
IV.
DIE
PYRAMIDE
So stellen sich allmählich verschiedene Künste auf den Weg, das
zu sagen, was sie am besten sagen können, und durch die Mittel,
die jede von ihnen ausschließlich besitzt.
Und trotz oder dank dieser Absonderung, nie standen in den
letzten Zeiten die Künste, als solche, einander näher als in dieser
letzten Stunde der geistigen Wendung.
In allem Erwähnten sind die Keime des Strebens zum Nicht-
naturellen, Abstrakten und zu innerer Natur. Bewußt oder un-
bewußt gehorchen sie dem Worte Sokrates: „Erkenne dich selbst !"
Bewußt oder unbewußt wenden sich allmählich die Künstler haupt-
sächlich zu ihrem Material, prüfen dasselbe, legen auf die geistige
Wage den inneren Wert der Elemente, aus welchen zu schaffen ihre
Kunst geeignet ist.
IV. DIE PYRAMIDE 37
Und aus diesem Streben kommt von selbst die natürliche Folge —
das Vergleichen der eigenen Elemente mit denen einer anderen
Kunst. In diesem Falle zieht man die reichste Lehre aus der Musik.
Mit wenigen Ausnahmen und Ablenkungen ist die Musik schon einige
Jahrhunderte die Kunst, die ihre Mittel nicht zum Darstellen der Er-
scheinungen der Natur brauchte, sondern als Ausdrucksmittel des see-
lischen Lebens des Künstlers und zum Schaffen eines eigenartigen
Lebens der musikalischen Töne.
Ein Künstler, welcher in der wenn auch künstlerischen Nachahmung
der Naturerscheinungen kein Ziel für sich sieht und ein Schöpfer ist,
welcher seine innere Welt zum Ausdruck bringen will und muß,
sieht mit Neid, wie solche Ziele in der heute unmateriellsten Kunst —
der Musik — natürlich und leicht zu erreichen sind. Es ist verständlich,
daß er sich ihr zuwendet und versucht, dieselben Mittel in seiner Kunst
zu finden. Daher kommt das heutige Suchen in der Malerei nach
Rhythmus, nach mathematischer, abstrakter Konstruktion, das heutige
Schätzen der Wiederholung des farbigen Tones, der Art, in welcher die
Farbe in Bewegung gebracht wird usw.
Dieses Vergleichen der Mittel verschiedenster Künste und dieses
Ablernen einer Kunst von der anderen kann nur dann erfolg- und
siegreich werden, wenn das Ablernen nicht äußerlich, sondern prin-
zipiell ist. D. h. eine Kunst muß bei der anderen lernen, wie sie mit
ihren Mitteln umgeht, sie muß es lernen, um dann ihre eigenen
Mittel prinzipiell gleich zu behandeln, d. h. in dem Prinzip, welches
ihr allein eigen ist. Bei diesem Ablernen muß der Künstler nicht ver-
38 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
gessen, daß jedes Mittel eine ihm geeignete Anwendung in sich birgt
und daß diese Anwendung herauszufinden ist.
In Anwendung der Form kann die Musik Resultate erzielen, die
die Malerei nicht erreichen kann. Andererseits bleibt hinter manchen
Eigenschaften der Malerei die Musik zurück. Z. B. hat die Musik die
Zeit, die Ausdehnung der Zeit zur Verfügung. Die Malerei aber kann
dagegen, indem sie den erwähnten Vorzug nicht besitzt, in einem Augen-
blick den ganzen Inhalt des Werkes dem Zuschauer bringen, wozu
wieder die Musik nicht fähig ist 1 ). Die Musik, die von der Natur
äußerlich ganz emanzipiert ist, braucht nicht irgendwo äußere Formen
für ihre Sprache zu leihen 2 ). Die Malerei ist heute noch beinahe voll-
ständig an die naturellen Formen, aus der Natur geliehene Formen
J ) Diese Unterschiede sind, wie alles in der Welt, relativ zu verstehen.
Im gewissen Sinne kann die Musik die Ausdehnung in der Zeit vermeiden und
die Malerei — diese Ausdehnung anwenden. Wie gesagt, haben alle Behaup-
tungen einen nur relativen Wert.
2 ) Wie kläglich Versuche ausfallen, die musikalischen Mittel zur Wiedergabe
der äußeren Formen zu brauchen, zeigt eng verstandene Programmusik. Es
wurden noch letzthin solche Experimente gemacht. Froschgesänge, Hühner-
höfe, Messerschleifen nachzuahmen, ist wohl einer Varietebühne ganz würdig
und kann als unterhaltender Spaß ganz lustig wirken. In der ernsten Musik
iber bleiben solche Ausschweifungen nur lehrreiche Beispiele, für Mißerfolge
..Natur zu geben". Die Natur hat ihre eigene Sprache, die auf uns mit einer un-
überwindlichen Macht wirkt. Diese Sprache ist nicht nachzuahmen. Wenn man
'inen Hühnerhof musikalisch darstellt, um die Stimmung der Natur dadurch zu
schaffen, den Zuhörer in diese Stimmung zu versetzen, so kommt klar zutage,
rlaß es eine unmögliche und nicht nötige Aufgabe ist. Eine derartige Stimmung
kann von jeder Kunst geschaffen werden, aber nicht durch äußerliche Nach-
ahmung der Natur, sondern durch künstlerische Wiedergabe dieser Stimmung
in ihrem inneren Wert.
IV. DIE PYRAMIDE 39
angewiesen. Und ihre Aufgabe ist heute, ihre Kräfte und Mittel zu
prüfen, sie kennen zu lernen, wie es die Musik schon lange tut, und
zu versuchen, diese Mittel und Kräfte in rein malerischer Weise zum
Zweck des Schaffens anzuwenden.
So grenzt die Vertiefung in sich eine Kunst von der anderen ab,
so bringt sie die Vergleichung wieder zueinander im inneren
Streben. So merkt man, daß jede Kunst ihre Kräfte hat, die durch
die einer anderen nicht ersetzt werden können. So kommt man schließ-
lich zur Vereinigung der eigenen Kräfte verschiedener Künste. Aus
dieser Vereinigung wird mit der Zeit die Kunst entstehen, die wir
schon heute vorahnen können, die wirkliche monumentale Kunst.
Und jeder, wer sich vertieft in die verborgenen inneren Schätze
seiner Kunst, ist ein beneidenswerter Mitarbeiter an der geistigen
Pyramide, die bis zum Himmel reichen wird.
B.
MALEREI
V.
WIRKUNG DER FARBE
Wenn man die Augen über eine mit Farben besetzte Palette gleiten
läßt, so entstehen zwei Hauptresultate :
1. es kommt eine rein physische Wirkung zustande, d. h.
das Auge selbst wird durch Schönheit und andere Eigenschaften der
Farbe bezaubert. Der Schauende empfindet ein Gefühl von Befriedigung,
Freude, wie ein Gastronom, wenn er einen Leckerbissen im Munde hat.
Oder es wird das Auge gereizt, wie der Gaumen von einer pikanten
Speise. Es wird auch wieder beruhigt oder abgekühlt, wie der Finger,
wenn er Eis berührt. Dies alles sind jedenfalls physische Gefühle,
welche als solche nur von kurzer Dauer sein können. Sie sind auch
oberflächlich und hinterlassen keinen dauernden Eindruck, wenn die
44 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Seele geschlossen bleibt. Ebenso wie man bei Berührung von Eis
nur das Gefühl einer physischen Kälte erleben kann und dieses Gefühl
nach dem Wiedererwärmen des Fingers vergißt, so wird auch die
physische Wirkung der Farbe vergessen, wenn das Auge abgewendet
wird. Und ebenso, wie das physische Gefühl der Kälte des Eises, wenn
es tiefer eindringt, andere tiefere Gefühle erweckt und eine ganze
Kette psychischer Erlebnisse bilden kann, so kann auch der oberfläch-
liche Eindruck der Farbe sich zu einem Erlebnis entwickeln.
Nur die gewohnten Gegenstände wirken bei einem mittelmäßig
empfindlichen Menschen ganz oberflächlich. Die aber, die uns zum
erstenmal begegnen, üben sofort einen seelischen Eindruck auf uns
aus. So empfindet die Welt das Kind, welchem jeder Gegenstand neu
ist. Es sieht das Licht, wird dadurch angezogen, will es fassen, ver-
brennt sich den Finger und bekommt Angst und Respekt vor der
Flamme. Dann lernt es, daß das Licht außer feindlichen Seiten auch
freundliche hat, daß es die Dunkelheit verscheucht, den Tag ver-
längert, daß es wärmen, kochen und lustiges Schauspiel bieten kann.
Nach der Sammlung dieser Erfahrungen ist die Bekanntschaft mit dem
Lichte gemacht und die Kenntnisse über dasselbe werden im Gehirn
aufgespeichert. Das stark intensive Interesse verschwindet, und
die Eigenschaft der Flamme, ein Schauspiel zu bieten, kämpft mit
voller Gleichgültigkeit gegen sie. Allmählich wird auf diesem Wege
die Welt entzaubert. Man weiß, daß Bäume Schatten geben, daß
Pferde schnell laufen können und Automobile noch schneller, daß Hunde
beißen, daß der Mond weit ist, daß der Mensch im Spiegel kein
echter ist.
V. WIRKUNG DER FARBE 45
Und nur bei einer höheren Entwicklung des Menschen erweitert
sich immer der Kreis derjenigen Eigenschaften, welche verschiedene
Gegenstände und Wesen in sich einschließen. Bei hoher Entwicklung
bekommen diese Gegenstände und Wesen inneren Wert und schließlich
inneren Klang. Ebenso ist es mit der Farbe, die bei niedrigem
Stand der seelischen Empfindsamkeit nur eine oberflächliche Wirkung
verursachen kann, eine Wirkung, die bald nach beendigtem Reiz ver-
schwindet. Aber auch in diesem Zustand ist diese einfachste Wirkung
verschiedener Art. Das Auge wird mehr und stärker von den helleren
Farben angezogen und noch mehr und noch stärker von den helleren,
wärmeren : Zinnoberrot zieht an und reizt, wie die Flamme, welche
vom Menschen immer begierig angesehen wird. Das grelle Zitronengelb
tut dem Auge nach längerer Zeit weh, wie dem Ohr eine hochklingende
Trompete. Das Auge wird unruhig, hält den Anblick nicht lange aus
und sucht Vertiefung und Ruhe in Blau oder Grün.
Bei höherer Entwicklung aber entspringt dieser elementaren Wir-
kung eine tiefergehende, die eine Gemütserschütterung verursacht. In
diesem Falle ist
2. das zweite Hauptresultat des Beobachtens der Farbe vorhanden,
d. h. die psychische Wirkung derselben. Hier kommt die psychische
Kraft der Farbe zutage, welche eine seelische Vibration hervorruft.
Und die erste, elementare physische Kraft wird nun zur Bahn, auf
welcher die Farbe die Seele erreicht.
Ob diese zweite Wirkung tatsächlich eine direkte ist, wie man aus
den letzten Zeilen annehmen kann, oder ob sie durch Assoziation
erreicht wird, bleibt vielleicht eine Frage. Da die Seele im allgemeinen
46 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
fest mit dem Körper verbunden ist, so ist es möglich, daß eine psy-
chische Erschütterung eine andere, ihr entsprechende durch Asso-
ziation hervorruft. Z. B. die rote Farbe kann eine der Flamme
ähnliche seelische Vibration verursachen, da das Rot die Farbe der
Flamme ist. Das warme Rot wirkt aufregend, dieses Rot kann bis
zu einer schmerzlichen Peinlichkeit steigen, vielleicht auch durch Ähn-
lichkeit mit fließendem Blut. Hier erweckt also diese Farbe eine Er-
innerung an ein anderes physisches Agens, welches unbedingt eine
peinliche Wirkung auf die Seele ausübt.
Wenn dies der Fall wäre, so würden wir leicht durch die Asso-
ziation eine Erklärung auch der anderen physischen Wirkungen der
Farbe finden, d. h. zu den Wirkungen nicht nur auf das Sehorgan,
sondern auch auf die anderen Sinne. Man kann eben annehmen, daß
z. B. helles Gelb einen sauren Eindruck macht aus der Assoziation
mit der Zitrone.
Es ist aber kaum möglich, derartige Erklärungen durchzuführen.
Was gerade den Geschmack der Farbe betrifft, so sind verschiedene
Beispiele bekannt, wo diese Erklärung nicht gebraucht werden kann.
Ein Dresdener Arzt erzählt von einem seiner Patienten, den er als
„geistig ungewöhnlich hochstehenden" Menschen charakterisiert, daß
er eine bestimmte Sauce immer und unfehlbar „blau" schmeckte,
d. h. wie blaue Farbe empfand 1 ). Man könnte vielleicht eine ähnliche,
l ) Dr. med. Freudenberg. Spaltung der Persönlichkeit. (Übersinn-
liche Welt 1908, Nr. 2, S. 64—65.) Hier wird auch über Farbenhören gespro-
chen (S. 65), wobei der Verfasser bemerkt, daß die vergleichenden Tabellen
V. WIRKUNG DER FARBE 47
aber doch andere Erklärung annehmen, daß gerade bei hochent-
wickelten Menschen die Wege zur Seele so direkt, und die Ein-
drücke derselben so schnell zu erreichen sind, daß eine Wirkung, die
durch den Geschmack geht, sofort zur Seele gelangt und die entspre-
chenden Wege aus der Seele zu anderen materiellen Organen mitklingen
läßt (in unserem Falle — Auge). Es wäre eine Art Echo oder Wider-
schall, wie man es bei Musikinstrumenten hat, wenn sie, ohne selbst
berührt zu werden, mit einem anderen Instrumente mitklingen, welches
direkt berührt wurde. Solche stark fühlenden Menschen sind wie gute,
vielgespielte Geigen, welche bei jeder Berührung mit dem Bogen in
allen Teilen und Fasern vibrieren.
Bei der Annahme dieser Erklärung muß freilich das Sehen nicht
nur mit dem Geschmack, sondern auch mit allen anderen Sinnen in
Zusammenhang stehen. Dieses ist auch der Fall. Manche Farben
können unglatt, stechend aussehen, wogegen andere wieder als etwas
Glattes, Samtartiges empfunden werden, so daß man sie gern streicheln
möchte. (Ultramarinblau dunkel, Chromoxydgrün, Krapplack.) Selbst
der Unterschied zwischen kalt und warm des Farbentones beruht auf
dieser Empfindung. Es gibt ebenso Farben, die weich erscheinen
(Krapplack) oder andere, die stets als harte vorkommen (Kobaltgrün,
grünblau Oxyd), so daß die frisch aus der Tube ausgepreßte Farbe
für trocken gehalten werden kann.
kein allgemeines Gesetz feststellen. Vgl. L. Sabanejeff in der Wochenschrift
„Musik", Moskau 1911, Nr. 9: Mit Bestimmtheit wird hier auf das baldige
Kommen eines Gesetzes hingewiesen.
48 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Der Ausdruck „duftende Farben" ist allgemein gebräuchlich.
Endlich ist das Hören der Farben so präzis, daß man vielleicht
keinen Menschen findet, welcher den Eindruck von Qrellgelb auf den
Baßtasten des Klaviers wiederzugeben suchen oder Krapplack dunkel
als eine Sopranstimme bezeichnen würde 1 ).
• Diese Erklärung (also eigentlich doch durch Assoziation) wird aber
in manchen Fällen, die für uns von ganz besonderer Wichtigkeit sind,
nicht genügen. Wer von Chromotherapie gehört hat, weiß, daß das
farbige Licht eine ganz besondere Wirkung auf den ganzen Körper
verursachen kann. Es wurde verschiedentlich versucht, diese Kraft der
Farbe auszunützen und bei verschiedenen Nervenkrankheiten anzuwen-
den, wobei man wieder bemerkte, daß das rote Licht belebend, auf-
regend auch auf das Herz wirkt, das Blaue dagegen zu zeitlicher
Paralyse führen kann. Wenn man eine derartige Wirkung auch auf
!) Auf diesem Gebiete wurde schon viel theoretisch und auch praktisch
gearbeitet. Auf der vielseitigen Ähnlichkeit (auch physikalischer Luft- und Licht-
vibration) will man auch der Malerei eine Möglichkeit finden, ihren Kontra-
punkt zu bauen. Andererseits in der Praxis wurde es mit Erfolg versucht, wenig
musikalischen Kindern durch Hilfe der Farben (z. B. durch Blumen) eine
Melodie einzuprägen. Viele Jahre arbeitet auf diesem Gebiete Frau A. Sacharjin-
Unkowsky, welche eine spezielle präzise Methode konstruiert hat, „die Musik
von den Farben der Natur abzuschreiben, die Laute der Natur zu malen, d i e
Laute farbig zu sehen und die Farben musikalisch zu höre n".
Diese Methode wird schon seit Jahren in der Schule der Erfinderin angewendet
und wurde vom St. Petersburger Konservatorium als zweckmäßig anerkannt.
Andererseits hat Skrjabin auf empirischem Wege eine parallele Tabelle
der musikalischen und farbigen Töne zusammengestellt, die der mehr physi-
kalischen Tabelle der Frau Unkowsky sehr gleicht. Skrjabin hat sein Prinzip
im „Prometheus" überzeugend angewendet. (S. Tabelle in der Wochenschrift
„Musik", Moskau 1911, Nr. 9.)
V. WIRKUNG DER FARBE 49
Tiere und sogar Pflanzen beobachten kann, was der Fall ist, so fällt
hier die Assoziationserklärung gänzlich weg. Diese Tatsachen beweisen
jedenfalls, daß die Farbe eine wenig untersuchte, aber enorme Kraft
in sich birgt, die den ganzen menschlichen Körper, als physischen Orga-
nismus, beeinflussen kann.
Wenn uns aber die Assoziation in diesem Falle nicht ausreichend
erscheint, so werden wir uns auch in der Wirkung der Farbe auf die
Psyche mit dieser Erklärung nicht begnügen können. Im allgemeinen
ist also die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele
auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer.
Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten.
Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweck-
mäßig die menschliche Seele in Vibration bringt.
So ist es klar, daß die Farbenharmonie nur auf dem
Prinzip der zweckmäßigen Berührung der mensch-
lichen Seele ruhen muß.
Diese Basis soll als Prinzip der inneren Notwendigkeit
bezeichnet werden.
Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst
VI.
FORMEN- UND
FARBENSPRACHE
„Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst,
Den nicht die Eintracht süßer Töne rührt,
Taugt zu Verrat, zu Räuberei, zu Tücken,
Die Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht,
Sein Trachten düster wie der Erebus:
Trau keinem solchen! — Horch auf die Musik!"
(Shakespeare.)
Der musikalische Ton hat einen direkten Zugang zur Seele. Er findet
da sofort einen Widerklang, da der Mensch „die Musik hat in sich
selbst".
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 51
„Jedermann weiß, daß gelb, orange und rot Ideen der Freude, des
Reichtums, einflößen und darstellen" (Delacroix). 1 )
Diese zwei Zitate zeigen die tiefe Verwandtschaft der Künste über-
haupt und der Musik und Malerei insbesondere. Auf dieser auffallen-
den Verwandtschaft hat sich sicher der Gedanke Goethes konstruiert,
daß die Malerei ihren Generalbaß erhalten muß. Diese prophetische
Äußerung Goethes ist ein Vorgefühl der Lage, in welcher sich heute
die Malerei befindet. Diese Lage ist der Ausgangspunkt des Weges,
auf welchem die Malerei durch Hilfe ihrer Mittel zur Kunst im abstrak-
ten Sinne heranwachsen wird und wo sie schließlich die rein malerische
Komposition erreichen wird.
Zu dieser Komposition stehen ihr zwei Mittel zur Verfügung:
1. Farbe.
2. Form.
Die Form allein, als Darstellung des Gegenstandes (realen oder nicht
realen) oder als rein abstrakte Abgrenzung eines Raumes, einer Fläche,
kann selbständig existieren.
Die Farbe nicht. Die Farbe läßt sich nicht grenzenlos ausdehnen.
Man kann sich das grenzenlose Rot nur denken oder geistig sehen.
Wenn man das Wort Rot hört, so hat dieses Rot in unserer Vorstellung
keine Grenze. Dieselbe muß mit Gewalt, wenn es nötig ist, dazu ge-
dacht werden. Das Rot, was man nicht materiell sieht, sondern sich
abstrakt vorstellt, erweckt andererseits eine gewisse präzise und un-
präzise innere Vorstellung, die einen rein inneren, physischen Klang
*) P. Signac o. c. — Siehe auch den interessanten Artikel von K. Scheffler
— „Notizen über die Farbe" (Dekorative Kunst, Febr. 1901).
52 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
hat 1 ). Dieses aus dem Wort klingende Rot hat auch selbständig keinen
speziell ausgesprochenen Übergang zu warm oder kalt. Dasselbe muß
noch dazu gedacht werden, wie feine Abstufungen des roten Tones.
Deswegen nenne ich dieses geistige Sehen unpräzis. Es ist aber auch
zur selben Zeit präzis, da der innere Klang bloß bleibt, ohne zufällige,
zu Einzelheiten führende Neigungen zu warm und kalt usw. Dieser
innere Klang ist ähnlich dem Klang einer Trompete oder eines Instru-
mentes, welchen man sich vorstellt bei dem Wort „Trompete" usw.,
wobei die Einzelheiten ausbleiben. Man denkt sich eben den Klang ohne
die Unterschiede, welche er erleidet, durch Klingen im Freien, im ge-
schlossenen Raum, allein oder mit andern Instrumenten, wenn ihn ein
Postillion, ein Jäger, ein Soldat oder ein Virtuose hervorruft.
Wenn aber dieses Rot in materieller Form gegeben werden muß
(wie in der Malerei), so muß es 1. einen bestimmten Ton haben aus
der unendlichen Reihe der verschiedenen Rot gewählt, also sozusagen
subjektiv charakterisiert werden, und 2. muß es auf der Fläche abge-
grenzt werden, von anderen Farben abgegrenzt, die unbedingt da
sind, die man in keinem Falle vermeiden kann und wodurch (durch Ab-
grenzung und Nachbarschaft) die subjektive Charakteristik sich verän-
dert (eine objektive Hülse erhält) : hier spricht der objektive Bei-
klang mit.
Dieses unvermeidliche Verhältnis zwischen Farbe und Form bringt
uns zu Beobachtungen der Wirkungen, welche die Form auf die Farbe
') Sehr ähnliches Resultat, wie bei dem weiterfolgenden Beispiel mit Baum,
in welchem aber das materielle Element der Vorstellung einen größeren Raum
einnimmt.
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 53
ausübt. Die Form selbst, wenn sie auch ganz abstrakt ist und einer
geometrischen gleicht, hat ihren innern Klang, ist ein geistiges Wesen
mit Eigenschaften, die mit dieser Form identisch sind. Ein Dreieck
(ohne die nähere Bezeichnung, ob es spitz, flach, gleichseitig ist) ist
ein derartiges Wesen mit dem ihm allein eigenen geistigen Parfüm.
In Verbindung mit anderen Formen differenziert sich dieses Parfüm,
bekommt beiklingende Nuancen, bleibt aber im Grunde unveränder-
lich, wie der Duft der Rose, der niemals mit dem des Veilchens ver-
wechselt werden kann. Ebenso Kreis, Quadrat und alle anderen mög-
lichen Formen 1 ). Also derselbe Vorfall, wie oben mit Rot: subjektive
Substanz in objektiver Hülse.
Hier kommt die Gegenwirkung der Form und Farbe klar zutage.
Ein Dreieck mit Gelb ausgefüllt, ein Kreis mit Blau, ein Quadrat mit
Grün, wieder ein Dreieck mit Grün, ein Kreis mit Gelb, ein Quadrat
mit Blau usw. Dies sind alle ganz verschiedene und ganz verschieden
wirkende Wesen.
Dabei läßt sich leicht bemerken, daß manche Farbe durch manche
Form in ihrem Wert unterstrichen wird und durch andere abgestumpft.
Jedenfalls spitze Farben klingen in ihrer Eigenschaft stärker in spitzer
Form (z. B. Gelb im Dreieck). Die zur Vertiefung geneigten werden
in dieser Wirkung durch runde Formen erhöht (z. B. Blau im Kreis).
Natürlich ist es andererseits klar, daß das Nichtpassen der Form zur
*) Eine bedeutungsvolle Rolle spielt dabei auch die Richtung, in welcher
z. B. das Dreieck steht, also die Bewegung. Dies ist von großer Wichtigkeit
für die Malerei.
54 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Farbe nicht als etwas „Unharmonisches" angesehen werden muß, son-
dern umgekehrt als eine neue Möglichkeit und also auch Harmonie.
Da die Zahl der Farben und der Formen unendlich ist, so sind
auch die Kombinationen unendlich und zur selben Zeit die Wirkungen.
Dieses Material ist unerschöpflich.
Die Form im engeren Sinne ist jedenfalls nichts weiter, wie die
Abgrenzung einer Fläche von der anderen. Dies ist ihre Bezeichnung
im Äußeren. Da aber alles Äußere auch unbedingt Inneres in sich
birgt (stärker oder schwächer zum Vorschein kommend), so h a t auch
jede Form inneren In halt 1 ). Die Form ist also die Äuße-
rung des inneren Inhaltes. Dies ist ihre Bezeichnung im
Inneren. Hier muß an das vor kurzem gebrachte Beispiel mit dem
Klavier gedacht werden, wobei man statt „Farbe" — „Form" stellt:
der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste (= Form)
zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt. So ist es
klar, daß die Formenharmonie nur auf dem Prinzip der
zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele
ruhen muß.
') Wenn eine Form gleichgültig wirkt und, wie man es nennt, „nichts
sagt", so ist dieses nicht buchstäblich zu verstehen. Es gibt keine Form, wie
überhaupt nichts in der Welt, was nichts sagt. Dieses Sagen gelangt aber oft
zu unserer Seele nicht, und zwar dann, wenn das Gesagte an und für sich gleich-
gültig ist oder, richtiger bezeichnet, nicht an der richtigen Stelle angebracht wurde.
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 55
Dieses Prinzip wurde hier als das Prinzip der inneren Not-
wendigkeit bezeichnet.
Die erwähnten zwei Seiten der Form sind zur selben Zeit ihre
zwei Ziele. Und deshalb ist die äußere Abgrenzung dann erschöpfend
zweckmäßig, wenn sie den inneren Inhalt der Form am ausdrucks-
vollsten zum Vorschein bringt 1 ). Das Äußere der Form, d. h. die Ab-
grenzung, welcher in diesem Falle die Form zum Mittel dient, kann
sehr verschieden sein.
Aber trotz aller Verschiedenheit, die die Form bieten kann, wird
sie doch nie über zwei äußere Grenzen hinausgehen, und zwar:
1. entweder dient die Form, als Abgrenzung, dem Ziele, durch
diese Abgrenzung einen materiellen Gegenstand aus der Fläche heraus-
zuschneiden, also diesen materiellen Gegenstand auf die Fläche zu
zeichnen, oder
2. bleibt die Form abstrakt, d. h. sie bezeichnet keinen realen Ge-
genstand, sondern ist ein vollkommen abstraktes Wesen. Solche rein
abstrakte Wesen, die als solche ihr Leben haben, ihren Einfluß und
ihre Wirkung, sind ein Quadrat, ein Kreis, ein Dreieck, ein Rhombus,
ein Trapez und die unzähligen anderen Formen, die immer komplizierter
werden und keine mathematische Bezeichnung besitzen. Alle diese
Formen sind gleichberechtigte Bürger des abstrakten Reiches.
x ) Diese Bezeichnung „ausdrucksvoll" ist richtig zu verstehen: manchmal
ist die Form dann ausdrucksvoll, wenn sie gedämpft ist. Die Form bringt
manchmal gerade dann das Nötige am ausdrucksvollsten, wenn sie nicht bis
zur letzten Grenze geht, sondern nur ein Wink ist, nur die Richtung zum
äußeren Ausdruck zeigt.
56 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Zwischen diesen beiden Grenzen liegt die unendliche Zahl der
Formen, in welchen beide Elemente vorhanden sind und wo ent-
weder das Materielle überwiegt oder das Abstrakte.
Diese Formen sind momentan der Schatz, aus welchem der Künstler
alle einzelnen Elemente seiner Schöpfungen entleiht.
Mit ausschließlich rein abstrakten Formen kann der Künstler heute
nicht auskommen. Diese Formen sind ihm zu unpräzis. Sich auf aus-
schließlich Unpräzises zu beschränken, heißt sich der Möglichkeiten
berauben, das rein Menschliche ausschließen und dadurch seine Aus-
drucksmittel arm machen.
Andererseits gibt es in der Kunst keine vollkommen materielle
Form. Es ist nicht möglich, eine materielle Form genau wiederzugeben :
Wohl oder übel unterliegt der Künstler seinem Auge, seiner Hand,
die in diesem Falle künstlerischer sind als seine Seele, die nicht über
photographische Ziele hinausgehen will. Der bewußte Künstler aber,
welcher mit dem Protokollieren des materiellen Gegenstandes sich nicht
begnügen kann, sucht unbedingt dem darzustellenden Gegenstande
einen Ausdruck zu geben, was man früher idealisieren hieß, später
stilisieren und morgen noch irgendwie anders nennen wird 1 ).
x ) Das Wesentliche des „Idealisierens" lag im Bestreben, die organische
Form zu verschönern, ideal zu machen, wobei leicht das Schematische entstand
und das innere Klingen des Persönlichen verstumpfte. Das „Stilisieren", mehr
aus dem impressionistischen Grunde emporwachsend, hatte als ersten Zweck
nicht die „Verschönerung" der organischen Form, sondern ihr starkes Charak-
terisieren durch das Auslassen der zufälligen Einzelheiten. Deswegen war das
hier entstehende Klingen ganz persönlichen Charakters, aber mit überwiegend
sprechendem Äußeren. Die kommende Behandlung und Veränderung der organi-
schen Form hat zum Ziel das Bloßlegen des inneren Klanges. Die organische
Raffael. Die hl. Familie
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 57
Diese Unmöglichkeit und Zwecklosigkeit (in der Kunst), den Gegen-
stand ohne Ziel zu kopieren, dieses Streben, dem Gegenstande das
Ausdrucksvolle zu entleihen, sind die Ausgangspunkte, von welchen
auf weiterem Wege der Künstler von der „literarischen" Färbung
des Gegenstandes zu rein künstlerischen (bzw. malerischen) Zielen
zu streben anfängt. Dieser Weg führt zum Kompositionellen.
Die rein malerische Komposition hat in bezug auf die Form zwei
Aufgaben vor sich :
1. Die Komposition des ganzen Bildes.
2. Die Schaffung der einzelnen Formen, die in verschiedenen Kom-
binationen zueinander stehen, sich der Komposition des Ganzen unter-
ordnen 1 ). So werden mehrere Gegenstände (reale und eventuell ab-
strakte) im Bild einer großen Form untergeordnet und so verändert,
daß sie in diese Form passen, diese Form bilden. Hier kann die
einzelne Form persönlich wenig klingend bleiben, sie dient in erster
Linie der Bildung der großen kompositionellen Form und ist haupt-
sächlich als Element dieser Form zu betrachten. Diese einzelne Form
ist so und nicht anders gestaltet; nicht, weil ihr eigener innerer Klang,
abgesehen von der großen Komposition, es unbedingt verlangt, sondern
Form dient hier nicht mehr zum direkten Objekt, sondern ist nur ein Element
der göttlichen Sprache, die Menschliches braucht, da sie durch Menschen an
Menschen gerichtet ist.
*) Die große Komposition kann selbstverständlich aus kleineren in sich
geschlossenen Kompositionen bestehen, die äußerlich sogar feindlich einander
gegenüberstehen, aber doch der großen Komposition (und gerade in diesem
Falle durch das Feindliche) dienen. Diese kleineren Kompositionen bestehen
aus einzelnen Formen auch verschiedener innerer Färbung.
58 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
größtenteils, weil sie als Baumaterial dieser Komposition zu dienen
berufen ist. Hier wird die erste Aufgabe — die Komposition des
ganzen Bildes — als definitives Ziel verfolgt 1 ).
So tritt in der Kunst allmählich immer näher in den Vordergrund
das Element des Abstrakten, welches noch gestern schüchtern und
kaum sichtbar sich hinter die rein materialistischen Bestrebungen ver-
steckte.
Und dieses Wachsen und schließlich Überwiegen des Abstrakten
ist natürlich.
Es ist natürlich, da, je mehr die organische Form zurückgetrieben
wird, desto mehr dieses Abstrakte von selbst in den Vordergrund tritt
und an Klang gewinnt.
Das bleibende Organische hat aber, wie gesagt, eigenen inneren
Klang, welcher entweder mit dem inneren Klang des zweiten Bestand-
!) Starkes Beispiel dafür — die badenden Frauen von Cezanne, Kompo-
sition im Dreieck. (Das mystische Dreieck!) Solches Aufbauen in geometrischer
Form ist ein altes Prinzip, welches zuletzt verlassen wurde, da es in steife aka-
demische Formeln ausartete, die keinen inneren Sinn, keine Seele, mehr hatten.
Die Anwendung dieses Prinzips durch Cezanne gab demselben eine neue Seele,
wobei das Reinmalerisch-Kompositionelle besonders stark betont wurde. Das
Dreieck in diesem wichtigen Falle ist kein Hilfsmittel für Harmonisierung der
Gruppe, sondern das laut gebrachte künstlerische Ziel. Hier ist die geo-
metrische Form zur selben Zeit Mittel zur Komposition in der Malerei : der
Schwerpunkt ruht auf rein künstlerischem Streben bei starkem Mitklingen des
Abstrakten. Deswegen verändert Cezanne mit vollem Recht die menschlichen
Proportionen : nicht nur die ganze Figur muß zur Spitze des Dreiecks streben,
sondern auch einzelne Körperteile werden immer stärker von unten nach oben
wie durch inneren Sturm in die Höhe getrieben, werden immer leichter und
dehnen sich sichtlich aus.
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 59
teiles derselben Form (des Abstrakten darin) identisch ist (einfache
Kombinierung der beiden Elemente), oder aucrfverschiedener Natur
sein kann (komplizierte und möglicherweise notwendig disharmonische
Kombinierung). Jedenfalls aber läßt das Organische in der gewählten
Form seinen Klang hören, wenn auch dieses Organische ganz in den
Hintergrund gedrängt wird. Deswegen ist die Wahl des realen Gegen-
standes von Wichtigkeit. In dem Doppelklange (geistiger Akkord)
der beiden Bestandteile der Form kann der organische den abstrakten
unterstützen (durch Mit- oder Widerklang) oder für denselben störend
sein. Der Gegenstand kann einen nur zufälligen Klang bilden, welcher,
durch einen anderen ersetzt, keine wesentliche Änderung des Grund-
klanges hervorruft.
Eine romboidale Komposition wird z. B. durch eine Anzahl mensch-
licher Figuren konstruiert. Man prüft sie mit dem Gefühl und stellt
sich die Frage: sind die menschlichen Figuren für die Komposition
unbedingt notwendig oder dürfte man sie durch andere organische
Formen ersetzen, und zwar so, daß der innere Grundklang der
Komposition dadurch nicht leidet? Und wenn ja, so ist hier der Fall
vorhanden, wo der Klang des Gegenstandes nicht nur dem Klang des
Abstrakten nicht hilft, sondern ihm direkt schadet: gleichgültiger Klang
des Gegenstandes schwächt den Klang des Abstrakten ab. Und dieses ist
nicht nur logisch, sondern auch künstlerisch tatsächlich der Fall. Es
sollte also in diesem Fall entweder ein anderer, mehr zum inneren
Klang des Abstrakten passender Gegenstand gefunden werden (passend
als Mit- oder Widerklang) oder überhaupt sollte diese ganze Form
eine rein abstrakte bleiben. Hier wird wieder an das Beispiel mit
60 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
dem Klavier erinnert. Statt „Farbe" und „Form" soll der „Gegenstand"
gestellt werden. Jeder Gegenstand (ohne Unterschied, ob er direkt
von der „Natur" geschaffen wurde oder durch menschliche Hand ent-
standen ist) ist ein Wesen mit eigenem Leben und daraus unvermeidlich
fließender Wirkung. Der Mensch unterliegt fortwährend dieser psy-
chischen Wirkung. Viele Resultate derselben werden im „Unterbewußt-
sein" bleiben (wo sie ebenso lebendig und schöpferisch wirken). Viele
steigen zum „Oberbewußtsein". Von vielen kann sich der Mensch be-
freien, indem er seine Seele dagegen abschließt. Die „Natur", d. h.
die stets wechselnde äußere Umgebung des Menschen, versetzt durch
die Tasten (Gegenstände) fortwährend die Saiten des Klaviers (Seele)
in Vibrationen. Diese Wirkungen, welche uns oft chaotisch zu sein
scheinen, bestehen aus drei Elementen : das Wirken der Farbe des
Gegenstandes, seiner Form und das von Farbe und Form unabhängige
Wirken des Gegenstandes selbst.
Nun tritt aber an die Stelle der Natur der Künstler, welcher über
dieselben drei Elemente verfügt. Und wir kommen ohne weiteres zum
Schluß: auch hier ist das Zweckmäßige maßgebend. So ist es
klar, daß die Wahl des Gegenstandes (= Beiklingen-
des Element in der Formharmonie) nur auf dem Prin-
zip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen
Seele ruhen muß.
Also entspringt auch die Wahl des Gegenstandes dem Prinzip der
inneren Notwendigkeit.
Je freier das Abstrakte der Form liegt, desto reiner und dabei
primitiver klingt es. In einer Komposition also, wo das Körperliche
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 6±
mehr oder weniger überflüssig ist, kann man auch dieses Körperliche
mehr oder weniger auslassen und durch rein abstrakte oder durch ganz
ins Abstrakte übersetzte körperliche Formen ersetzen. In jedem Falle
dieser Übersetzung oder dieses Hineinkomponierens der rein abstrakten
Form soll der einzige Richter, Lenker und Abwäger das Gefühl sein.
Und freilich, je mehr der Künstler diese abstrahierten oder abstrakten
Formen braucht, desto heimischer wird er im Reiche derselben und
tritt immer tiefer in dieses Gebiet ein. Und ebenso durch den Künstler
geführt auch der Zuschauer, welcher immer mehr Kenntnisse in der
abstrakten Sprache sammelt und sie schließlich beherrscht.
Da stehen wir vor der Frage: müssen wir denn nicht auf das
Gegenständliche überhaupt verzichten, es aus unserer Vorratskammer
in alle Winde zerstreuen und das rein Abstrakte ganz bloßlegen? Dies
ist die natürlich sich aufdrängende Frage, welche durch das Auseinander-
setzen des Mitklingens der beiden Formelemente (des gegenständlichen
und abstrakten) uns auch gleich auf die Antwort stößt. Wie jedes ge-
sagte Wort (Baum, Himmel, Mensch) eine innere Vibration erweckt,
so auch jeder bildlich dargestellte Gegenstand. Sich dieser Möglichkeit,
eine Vibration zu verursachen, zu berauben, wäre: das Arsenal seiner
Mittel zum Ausdruck zu vermindern. So steht es jedenfalls heute. Aber
außer dieser heutigen Antwort bekommt die oben gestellte Frage die
Antwort, die in der Kunst die ewige bleibt auf alle Fragen, die mit
„muß" anfangen : Es gibt kein „muß" in der Kunst, die ewig frei
ist. Vor dem „muß" flieht die Kunst, wie der Tag vor der Nacht.
Bei der Betrachtung der zweiten kompositioneilen Aufgabe, der
Schaffung der einzelnen zum Aufbau der ganzen Komposition be-
62 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
stimmten Formen muß noch bemerkt werden, daß dieselbe Form
bei gleichen Bedingungen immer gleich klingt. Nur sind die Bedin-
gungen immer verschieden, woraus zwei Folgen fließen :
1. ändert sich der ideale Klang durch Zusammenstellung mit anderen
Formen,
2. ändert er sich auch in derselben Umgebung (soweit das Festhalten
derselben möglich ist), wenn diese Form in ihrer Richtung verschoben
wird 1 ). Aus diesen Folgen fließt weiter eine andere von selbst heraus.
Es gibt nichts Absolutes. Und zwar ist die Formenkomposition,
auf dieser Relativität ruhend, abhängig 1. von der Veränderlichkeit
der Zusammenstellung der Formen und 2. von der Veränderlichkeit
jeder einzelnen Form bis ins kleinste. Jede Form ist so empfindlich wie
ein Rauchwölkchen : das unmerklichste geringste Verrücken jeder ihrer
Teile verändert sie wesentlich. Und dies geht so weit, daß es viel-
leicht leichter ist, denselben Klang durch verschiedene Formen zu
erzielen, als ihn durch die Wiederholung derselben Form wieder zum
Ausdruck zu bringen : eine wirkliche genaue Wiederholung liegt außer
der Möglichkeit. Solange wir nur für das Ganze der Komposition
besonders empfänglich sind, ist diese Tatsache mehr theoretisch wichtig.
Wenn aber die Menschen durch das Gebrauchen der abstrakteren und
abstrakten Formen (die keine Interpretation von Körperlichem erhalten
werden) ein feineres und stärkeres Empfinden bekommen werden, so
wird diese Tatsache immer mehr an praktischer Bedeutung gewinnen.
*) Was man Bewegung nennt; z. B. ein Dreieck einfach nach oben gerichtet
klingt ruhiger, unbeweglicher, stabiler, als dasselbe Dreieck schief auf die Fläche
gestellt.
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 63
Und so werden einerseits die Schwierigkeiten der Kunst wachsen,
aber gleichzeitig wird auch der Reichtum an Formen in den Ausdrucks-
mitteln quantitativ und qualitativ mitwachsen. Dabei wird auch die
Frage des „Verzeichnens" von selbst fallen und wird durch eine andere
viel künstlerischere ersetzt: wie weit ist der innere Klang der gegebenen
Form verschleiert oder entblößt? Diese Änderung in den Ansichten
wird wieder noch weiter und zu noch größerer Bereicherung der Aus-
drucksmittel führen, da die Verschleierung eine enorme Macht in der
Kunst ist. Das Kombinieren des Verschleierten und des Bloßgelegten
wird eine neue Möglichkeit der Leitmotive einer Formenkomposition
bilden.
Ohne solche Entwicklung auf diesem Gebiete würde die Formen-
komposition unmöglich bleiben. Jedem, den der innere Klang der Form
(der körperlichen und besonders der abstrakten) nicht erreicht, wird
ein derartiges Komponieren stets als bodenlose Willkür erscheinen.
Gerade das scheinbar folgenlose Verschieben der einzelnen Formen auf
der Bildfläche erscheint in diesem Fall als inhaltloses Spiel mit den
Formen. Hier finden wir denselben Maßstab und dasselbe Prinzip,
welches wir bis jetzt überall als das einzige rein künstlerische, vom
Nebensächlichen freie fanden: Das Prinzip der inneren Not-
wendigkeit.
Wenn z. B. Gesichtszüge oder verschiedene Körperteile aus künstle-
rischem Grunde verschoben und „verzeichnet" werden, so stößt man
doch außer auf die rein malerische Frage auch auf die anatomische, die
die malerische Absicht hemmt und ihr nebensächliches Berechnen auf-
zwingt. In unserem Falle fällt aber alles Nebensächliche von selbst
64 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER K UNST
ab und es bleibt nur das Wesentliche — das künstlerische Ziel. Gerade
diese scheinbar willkürliche, aber in Wirklichkeit streng bestimmbare
Möglichkeit, die Formen zu verschieben, ist eine der Quellen einer
unendlichen Reihe rein künstlerischer Schöpfungen.
Also die Biegsamkeit der einzelnen Form, ihre sozusagen inner-
lich-organische Veränderung, ihre Richtung im Bilde (Bewegung), das
Überwiegen des Körperlichen oder des Abstrakten in dieser einzelnen
Form einerseits und andererseits die Zusammenstellung der Formen,
die die großen Formen der Formengruppen bilden, die Zusammenstel-
lung der einzelnen Formen mit den Formengruppen, welche die große
Form des ganzen Bildes schaffen, weiter die Prinzipien des Mit- oder
Widerklangs aller erwähnten Teile, d. h. das Zusammentreffen ein-
zelner Formen, das Hemmen einer Form durch die andere, ebenso das
Schieben, das Mit- und Zerreissen der einzelnen Formen, die gleiche
Behandlung der Formengruppen, des Kombinierens des Verschleierten
mit dem Bloßgelegten, des Kombinierens des Rhythmischen und Arhyth-
mischen auf derselben Fläche, des Kombinierens der abstrakten Formen
als rein geometrischer (einfacher, komplizierter) und geometrisch un-
bezeichenbarer, des Kombinierens der Abgrenzungen der Formen von-
einander (stärkerer, schwächerer) usw. usw. — dies alles sind die Ele-
mente, die die Möglichkeit eines rein zeichnerischen „Kontrapunktes"
bilden und die zu diesem Kontrapunkt führen werden. Und dies wird
der Kontrapunkt der Kunst des Schwarz-Weißen, solange die Farbe
ausgeschaltet ist.
Und die Farbe, die selbst ein Material zu einem Kontrapunkt bietet,
die selbst unendliche Möglichkeiten in sich birgt, wird in Vereinigung
-a
c
•o
CQ
Q
c
c
C3
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 65
mit der Zeichnung zum großen malerischen Kontrapunkt führen, auf
welchem auch die Malerei zur Komposition gelangen wird und sich
als wirklich reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt. Und immer
derselbe unfehlbare Führer bringt sie auf diese schwindelnde Höhe:
das Prinzip der inneren Notwendigkeit!
Die innere Notwendigkeit entsteht aus drei mystischen Gründen.
Sie wird von drei mystischen Notwendigkeiten gebildet:
1. hat jeder Künstler, als Schöpfer, das ihm Eigene zum Ausdruck
zu bringen (Element der Persönlichkeit),
2. hat jeder Künstler, als Kind seiner Epoche, das dieser Epoche
Eigene zum Ausdruck zu bringen (Element des Stiles im inneren Werte,
zusammengesetzt aus der Sprache der Epoche und der Sprache der
Nation, solange die Nation als solche existieren wird),
3. hat jeder Künstler, als Diener der Kunst, das der Kunst im all-
gemeinen Eigene zu bringen (Element des Rein- und Ewig-Künstleri-
schen, welches durch alle Menschen, Völker und Zeiten geht, im Kunst-
werke jedes Künstlers, jeder Nation und jeder Epoche zu sehen ist und
als Hauptelement der Kunst keinen Raum und keine Zeit kennt).
Man muß nur diese zwei ersten Elemente mit dem geistigen Auge
durchdringen, um dieses dritte Element bloßgelegt zu sehen. Dann
sieht man, daß eine „grob" geschnitzte Indianertempel-Säule vollkom-
men durch dieselbe Seele belebt ist, wie ein noch so „modernes"
lebendiges Werk.
Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst 5
66 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Es wurde und wird noch heute viel vom Persönlichen in der Kunst
gesprochen, hier und da fällt ein Wort und wird jetzt immer öfter
fallen über den kommenden Stil. Wenn diese Fragen auch von großer
Wichtigkeit sind, so verlieren sie durch Jahrhunderte und später Jahr-
tausende gesehen allmählich an Schärfe und Wichtigkeit, werden schließ-
lich gleichgültig und tot.
Nur das dritte Element des Rein- und Ewig-Künstlerischen bleibt
ewig lebendig. Es verliert mit der Zeit seine Kraft nicht, sondern
gewinnt an ihr ständig. Eine ägyptische Plastik erschüttert uns heute
sicherlich mehr, als sie ihren Zeitgenossen zu erschüttern vermochte :
sie war an ihre Zeitgenossen noch viel zu stark durch damals noch
lebendig gewesene Merkmale der Zeit und der Persönlichkeit gebun-
den und durch sie gedämpft. Heute hören wir in ihr den entblößten
Klang der Ewigkeit-Kunst. Und andererseits: je mehr ein „heutiges"
Werk von den ersten zwei Elementen hat, desto leichter wird es natür-
licherweise den Zugang zur Seele des Zeitgenossen finden. Und weiter:
je meh r das dritte Element im heutigen Werk vorhanden ist, desto
mehr werden die ersten zwei übertönt und dadurch der Zugang zur
Seele des Zeitgenossen erschwert. Deswegen müssen manchmal Jahr-
hunderte vergehen, bis der Klang des dritten Elementes zur Seele
der Menschen gelangen kann.
So ist das Überwiegen dieses dritten Elementes im Werk das
Zeichen deiner Größe und der Größe des Künstlers.
Diese drei mystischen Notwendigkeiten sind die drei notwendigen
Elemente des Kunstwerkes, die fest miteinander verbunden sind, d. h.
sie durchdringen sich gegenseitig, was in jeder Zeit das Einheitliche
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 67
des Werkes ausdrückt. Trotzdem haben die zwei ersten Elemente
das Zeitliche und Räumliche in sich, was im Rein- und Ewig-Künst-
lerischen, welches außer Zeit und Raum steht, eine gewisse verhält-
nismäßig undurchsichtige Hülse bildet. Der Vorgang der Kunstent-
wicklung besteht gewissermaßen aus dem Sichabheben des Rein- und
Ewig-Künstlerischen von dem Element der Persönlichkeit, dem Ele-
ment des Zeitstiles. So sind diese zwei Elemente nicht nur mitspielende
Kräfte, sondern auch bremsende.
Der persönliche und zeitliche Stil bildet in jeder Epoche viele
präzise Formen, die trotz den scheinbar großen Verschiedenheiten
so organisch verwandt sind, daß sie als eine Form bezeichnet wer-
den können: ihr innerer Klang ist schließlich nur ein Hauptklang.
Diese beiden Elemente sind subjektiver Natur. Die ganze Epoche
will sich abspiegeln, ihr Leben künstlerisch äußern. Ebenso will
der Künstler sich äußern und wählt nur die ihm seelisch verwandten
Formen.
Allmählich und schließlich bildet sich der Stil der Epoche, d. h.
eine gewisse äußere und subjektive Form. Das Rein- und Ewig-
Künstlerische ist dagegen das objektive Element, welches mit Hilfe
des subjektiven verständlich wird.
Das unvermeidliche Sichausdrückenwollen des Objektiven ist die
Kraft, die hier als innere Notwendigkeit bezeichnet wird und die aus
dem Subjektiven heute eine allgemeine Form braucht und morgen
eine andere. Sie ist der ständige unermüdliche Hebel, die Feder,
die ununterbrochen „vorwärts" treibt. Der Geist schreitet weiter und
deshalb sind die heutigen inneren Gesetze der Harmonie morgen
5*
68 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
äußere Gesetze, die in weiterer Anwendung nur durch diese äußer-
lich gewordene Notwendigkeit leben. Es ist klar, daß die innere geistige
Kraft der Kunst sich aus der heutigen Form nur eine Stufe macht,
um zu weiteren zu gelangen.
Kurz gesagt, ist die Wirkung der inneren Notwendigkeit und also
die Entwicklung der Kunst eine fortschreitende Äußerung des Ewig-
Objektiven im Zeitlich-Subjektiven. Und also andererseits das Be-
kämpfen des Subjektiven durch das Objektive.
Z. B. ist die heutige anerkannte Form eine Eroberung der gestrigen
inneren Notwendigkeit, die auf einer gewissen äußeren Stufe der Be-
freiung, der Freiheit geblieben ist. Diese heutige Freiheit wurde durch
Kampf gesichert und scheint, wie immer, vielen „das letzte Wort" zu
sein. Ein Kanon dieser beschränkten Freiheit ist: der Künstler darf
jede Form zum Ausdruck brauchen, solange er auf dem Boden der
aus der Natur entliehenen Formen bleibt. Diese Forderung ist aber,
wie alle früheren, nur zeitlich. Sie ist der heutige äußere Ausdruck,
d. h. die heutige äußere Notwendigkeit. Vom Standpunkt der inneren
Notwendigkeit gesehen, darf eine derartige Beschränkung nicht ge-
macht werden, und der Künstler darf sich vollkommen auf die heutige
innere Basis stellen, welcher die heutige äußere Beschränkung genom-
men wird, und die dadurch folgendermaßen zu definieren ist : der
Künstler darf jede Form zum Ausdruck brauchen.
So sieht man endlich (und dieses ist von unbeschreiblicher Wich-
tigkeit für alle Zeiten und ganz besonders „heute"!), daß das Suchen
nach dem Persönlichen, nach dem Stil (und also nebenbei nach dem
Nationalen) nicht nur durch Absicht nicht zu erreichen ist, sondern
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 69
auch nicht die große Bedeutung hat, die heute der Sache beigemessen
wird. Und man sieht, daß die allgemeine Verwandtschaft der Werke,
die durch Jahrtausende nicht geschwächt, sondern immer mehr und
mehr gestärkt wird, nicht im Äußeren, im Äußerlichen liegt, sondern
in der Wurzel der Wurzeln — im mystischen Inhalt der Kunst. Und
man sieht, daß das Hängen an der „Schule", das Jagen nach der „Rich-
tung", das Verlangen in einem Werk nach „Prinzipien" und bestimm-
ten, der Zeit eigenen Ausdrucksmitteln nur auf Irrwege führen kann
und zu Unverständnis, zur Verfinsterung, Verstummung bringen muß.
Blind gegen „anerkannte" oder „unanerkannte" Form, taub gegen
Lehren und Wünsche der Zeit soll der Künstler sein.
Sein offenes Auge soll auf sein inneres Leben gerichtet werden und
sein Ohr soll dem Munde der inneren Notwendigkeit stets zugewen-
det sein.
Dann wird er zu jedem erlaubten Mittel und ebenso leicht zu jedem
verbotenen Mittel greifen.
Dieses ist der einzige Weg, das Mystischnotwendige zum Ausdruck
zu bringen.
Alle Mittel sind heilig, wenn sie innerlich-notwendig sind.
Alle Mittel sind sündhaft, wenn sie nicht aus der Quelle der inneren
Notwendigkeit stammen.
Und andererseits, wenn man auf diesem Wege auch heute ins Un-
endliche theoretisieren kann, so ist jedenfalls die Theorie in weiteren
Einzelheiten verfrüht. In der Kunst geht nie die Theorie voraus, und
zieht die Praxis nie nach sich, sondern umgekehrt. Hier ist alles und
ganz besonders im Anfang Qefühlsache. Nur durch Gefühl, beson-
70 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
ders im Anfang des Weges, ist das künstlerisch Richtige zu erreichen.
Wenn die allgemeine Konstruktion auch rein theoretisch zu erreichen
ist, so bleibt doch dieses Plus, welches die wahrhaftige Seele der
Schöpfung ist (und also auch verhältnismäßig ihr Wesen), nie durch
Theorie geschaffen und nie gefunden, wenn es nicht plötzlich vom Ge-
fühl in die Schöpfung eingehaucht wird. Da die Kunst auf das Gefühl
wirkt, so kann sie auch nur durch das Gefühl wirken. Bei sichersten
Proportionen, bei feinsten Wagen und Gewichten, kommt aus der
Kopfrechnung und deduktiven Wägung nie ein richtiges Resultat zur
Folge. Es können solche Proportionen nicht ausgerechnet werden und
solche Wagen können nicht fertig gefunden werden 1 ). Die Propor-
tionen und Wagen sind nicht außerhalb des Künstlers, sondern in
ihm, sie sind das, was man auch Grenzengefühl, künstlerischen Takt
nennen kann — Eigenschaften, die dem Künstler angeboren sind und
durch Begeisterung erhöht werden zur genialen Offenbarung. In die-
sem Sinne ist auch die Möglichkeit eines von Goethe prophezeiten Ge-
neralbasses in der Malerei zu verstehen. Eine derartige Malgrammatik
läßt sich momentan nur vorahnen, und wenn es endlich zu derselben
!) Der große, vielseitige Meister Leonardo da Vinci ersann ein System
oder eine Skala von Löffelchen, mit welchen verschiedene Farben zu nehmen
waren. Es sollte dadurch ein mechanisches Harmonisieren erreicht werden.
Einer seiner Schüler quälte sich mit der Anwendung dieses Hilfsmittels, und
durch Mißerfolge verzweifelt, wendete er sich an seinen Kollegen mit der
Frage, wie der Meister selbst mit den Löffelchen umgehe. „Der Meister
wendet sie nie an", antwortete ihm der Kollege. (Mereschkowski : „Leonardo
da Vinci", deutsche Übersetzung von A. Eliasberg im Verlage R. Piper & Co.,
München.)
Vi. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 71_
kommt, so wird dieselbe weniger auf Grund der physischen Gesetze
gebaut werden (wie man schon versuchte und heute wieder versucht:
„Kubismus"), sondern auf den Gesetzen der inneren Not-
wendigkeit, die man ruhig als seelische bezeichnen kann.
So sehen wir, daß im Grunde eines jeden kleinen und im Grunde
des größten Problems der Malerei das Innere liegen wird. Der Weg,
auf welchem wir uns heute schon befinden, und welcher das größte
Glück unserer Zeit ist, ist der Weg, auf welchem wir uns des Äußeren 1 )
entledigen werden, um statt dieser Hauptbasis eine ihr entgegengesetzte
zu stellen : Die Hauptbasis der inneren Notwendigkeit. Aber wie der
Körper durch Übungen gestärkt und entwickelt wird, so auch der
Geist. Wie der vernachlässigte Körper schwach und schließlich im-
l ) Der Begriff „Äußeres" soll hier nicht mit dem Begriff „Materie" ver-
wechselt werden. Den ersten Begriff brauche ich nur als einen Ersatz für
„äußere Notwendigkeit", welche nie über die Grenzen des anerkannten und
also nur traditionellen „Schönen" führen kann. Die „innere Notwendigkeit"
kennt diese Grenzen nicht und schafft dadurch oft Dinge, die man gewöhnt
ist, als „häßlich" zu bezeichnen. „Häßlich" ist also nur ein Gewohnheits-
begriff, welcher als äußeres Resultat einer der früher gewirkt habenden und
schon verkörperten inneren Notwendigkeiten noch lange ein Scheinleben weiter
führt. Als häßlich wurde in dieser vergangenen Zeit alles gestempelt, was
damals in keinem Zusammenhang mit der inneren Notwendigkeit stand. Was
aber im Zusammenhang mit ihr war, wurde als schön definiert. Und dieses
letzte mit Recht, — alles, was die innere Notwendigkeit hervorruft, ist schon
dadurch schön. Und wird auch als solches früher oder später unvermeidlich
anerkannt.
72 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
potent wird, so auch der Geist. Das dem Künstler angeborene Gefühl
ist eben das evangelische Talent, welches nicht vergraben werden darf.
Der Künstler, welcher seine Gaben nicht nützt, ist der faule Sklave.
Deswegen ist es nicht nur unschädlich, sondern unbedingt not-
wendig, daß der Künstler den Ausgangspunkt dieser Übungen kennt.
Dieser Ausgangspunkt ist das Wägen des inneren Wertes des Ma-
terials auf der großen objektiven Wage, d. h. Untersuchung — in
unserem Falle — der Farbe, die im großen und ganzen jedenfalls
auch auf jeden Menschen wirken muß.
Also braucht man hier auch nicht in tiefe und feine Kompliziertheiten
der Farbe sich einlassen, sondern man begnügt sich mit der elemen-
taren Darstellung der einfachen Farbe. v
Man konzentriert sich zunächst auf isolierte Farbe, man läßt
einzelnstehende Farbe auf sich wirken. Dabei kommt ein mög-
lichst einfaches Schema in Betracht. Die ganze Frage wird in eine
möglichst einfache Form hineingepreßt.
Die zwei großen Abteilungen, die dabei sofort ins Auge fallen, sind :
1. Wärme und Kälte des farbigen Tones und
2. Helligkeit oder Dunkelheit desselben.
So entstehen sofort vier Hauptklänge jeder Farbe: entweder ist
sie I. warm und dabei 1. hell oder 2. dunkel, oder sie ist II. kalt
und 1. hell oder 2. dunkel.
Die Wärme oder die Kälte der Farbe ist eine Neigung ganz im
allgemeinen zu Gelb oder zu Blau. Dies ist eine Unterscheidung, die
sozusagen auf derselben Fläche geschieht, wobei die Farbe ihren Grund-
klang behält, aber dieser Grundklang wird mehr materiell oder mehr
TABELLE I
Erstes Paar
der Gegensätze: I und II
(innerlichen Charakters als see-
lische Wirkung)
Warm
Gelb
Kalt
Blau
Gegensatz
2 Bewegungen:
1. horizontale
Zum Beschauer
(körperlich)
Gelb
2. ex-
Hell
Weiß
-«< )&■
und
Blau
Dunkel
Schwarz
v. Beschauer
(geistig)
konzentrische
II Gegensatz
2 Bewegungen:
1. Die Bewegung des Widerstandes
Ewiger Widerstand und absolute Widerstands-
trotzdem Möglichkeit Weiß Schwarz Iosigkeit und keine
(Geburt) Möglichkeit (Tod)
2. ex- und konzentrische, wie bei Gelb und Blau, aber in
erstarrter Form.
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 73
unmateriell. Es ist eine horizontale Bewegung, wobei das Warme
sich auf dieser horizontalen Fläche zum Zuschauer bewegt, zu ihm
strebt, das Kalte — sich vom Zuschauer entfernt.
Die Farben selbst, die diese horizontale Bewegung einer anderen
Farbe verursachen, sind auch durch dieselbe Bewegung charakterisiert,
haben aber noch eine andere Bewegung, die sie stark voneinander in
der inneren Wirkung trennt: sie sind dadurch der erste große Ge-
gensatz im inneren Werte. So ist also die Neigung der Farbe
zu Kalt oder Warm von einer unermeßlichen inneren Wichtigkeit und
Bedeutung.
Der zweite große Gegensatz ist der Unterschied zwischen
Weiß und Schwarz, also der Farben, die das andere Paar der vier
Hauptklänge erzeugen : die Neigung der Farbe zu Hell oder zu Dunkel.
Diese letzten haben auch dieselbe Bewegung zum und vom Zuschauer,
aber nicht in dynamischer, sondern statischer — erstarrter Form (siehe
Tab. I).
Die zweite Bewegung von Gelb und Blau, die zum ersten großen
Gegensatz beiträgt, ist ihre ex- und konzentrische Bewegung 1 ). Wenn
man zwei Kreise macht von gleicher Größe und einen mit Gelb füllt
und den andern mit Blau, so merkt man schon bei kurzer Konzentrie-
rung auf diese Kreise, daß das Gelb ausstrahlt, eine Bewegung aus
dem Zentrum bekommt und sich beinahe sichtbar dem Menschen nähert.
Das Blau aber eine konzentrische Bewegung entwickelt (wie eine
*) Alle diese Behauptungen sind Resultate empirisch-seelischer Empfindung
und sind auf keiner positiven Wissenschaft basiert.
74 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Schnecke, die sich in ihr Häuschen verkriecht), und vom Menschen
sich entfernt. Vom ersten Kreis wird das Auge gestochen, während es
in den zweiten versinkt.
Diese Wirkung vergrößert sich, wenn man den Unterschied in Hell
und Dunkel hinzufügt: die Wirkung des Gelb steigert sich bei Auf-
hellen (einfach gesagt: bei Beimischung des Weißen), die Wirkung
des Blau steigert sich bei Verdunkeln der Farbe (Beimischung des
Schwarzen). Diese Tatsache bekommt noch eine größere Bedeutung,
wenn man bemerkt, daß das Gelb dermaßen zum Hellen (Weiß)
neigt, daß es überhaupt kein sehr dunkles Gelb geben kann. Es ist
also eine tiefe Verwandtschaft bei Gelb und Weiß im physischen Sinne,
ebenso wie bei Blau und Schwarz, da das Blau eine Tiefe bekommen
kann, die an das Schwarz grenzt. Es ist außer dieser physischen Ähn-
lichkeit auch eine moralische da, die im innern Werte die zwei Paare
(Gelb und Weiß einerseits und Blau und Schwarz andererseits) von-
einander stark trennt und die zwei Glieder eines jeden Paares sehr
verwandt miteinander macht (worüber Näheres später bei Besprechung
von Weiß und Schwarz).
Wenn man versucht, Gelb (diese typisch warme Farbe) kälter zu
machen, so bekommt sie einen grünlichen Ton und verliert sofort an
beiden Bewegungen (horizontaler und exzentrischer). Es bekommt
dadurch einen etwas kränklichen und übersinnlichen Charakter, wie
ein Mensch voll Streben und Energie, welcher durch äußere Zustände
in diesem Streben und der Anwendung seiner Energie verhindert wird.
Das Blau, als eine ganz entgegengesetzte Bewegung, bremst das Gelb,
wobei schließlich bei weiterem Hinzufügen von Blau beide entgegen-
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 75
gesetzten Bewegungen sich gegenseitig vernichten und volle Unbe-
vveglichkeit und Ruhe entsteht. Es entsteht Grün.
Dasselbe geschieht auch mit Weiß, wenn es durch Schwarz ge-
trübt wird. Es verliert an Beständigkeit und es entsteht zuletzt Qrau,
welches im moralischen Werte sehr dem Grün nahesteht.
Nur sind im Grün Gelb und Blau als paralysierte Kräfte verborgen,
die wieder aktiv werden können. Eine lebendige Möglichkeit liegt
im Grün, die im Grau ganz fehlt. Sie fehlt deswegen, weil das Grau
aus Farben besteht, die keine rein aktive (sich bewegende) Kraft be-
sitzen, sondern einerseits aus unbeweglichem Widerstand bestehen
und andererseits aus widerstandsunfähiger Unbeweglichkeit (wie eine
ins Unendliche gehende Mauer von unendlicher Stärke und ein boden-
loses unendliches Loch).
Und da beide das Grün schaffenden Farben aktiv sind und eine
Bewegung in sich haben, so kann man schon rein theoretisch nach
dem Charakter dieser Bewegungen das geistige Wirken der Farben
feststellen, und ebenso, wenn man hier experimental handelt und die
Farben auf sich wirken läßt, kommt man wieder zu demselben Resultate.
Und tatsächlich die erste Bewegung von Gelb, das Streben zum Men-
schen, welches bis zur Aufdringlichkeit erhoben werden kann (bei Ver-
stärkung der Intensivität des Gelb), und auch die zweite Bewegung,
das Springen über die Grenze, das Zerstreuen der Kraft in die Umge-
bung sind gleich den Eigenschaften jeder materiellen Kraft, die sich
unbewußt auf den Gegenstand stürzt und ziellos nach allen Seiten aus-
strömt. Andererseits das. Gelb, wenn es direkt betrachtet wird, (in
irgendeiner geometrischen Form), beunruhigt den Menschen, sticht,
76 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
regt ihn auf und zeigt den Charakter der in der Farbe ausgedrückten
Gewalt, die schließlich frech und aufdringlich auf das Gemüt wirkt 1 ).
Diese Eigenschaft des Gelb, welches große Neigung zu helleren Tönen
hat, kann zu einer dem Auge und dem Gemüt unerträglichen Kraft
und Höhe gebracht werden. Bei dieser Erhöhung klingt es, wie eine
immer lauter geblasene scharfe Trompete oder ein in die Höhe gebrach-
ter Fanfarenton 2 ).
Gelb ist die typisch irdische Farbe. Gelb kann nicht
weit in die Tiefe getrieben werden. Bei Abkühlung durch Blau bekommt
es, wie oben erwähnt, einen kränklichen Ton. Verglichen mit dem
Gemütszustand des Menschen könnte es als farbige Darstellung des
Wahnsinns wirken, aber nicht der Melancholie, Hypochondrie, sondern
eines Wutanfalles, der blinden Tollheit, der Tobsucht. Der Kranke
überfällt die Menschen, schlägt alles zugrunde und schleudert seine
physischen Kräfte nach allen Seiten, verbraucht sie plan- und grenzen-
los, bis er sie vollständig verzehrt hat. Es ist auch wie die tolle Ver-
x ) So wirkt i. B. der gelbe bayerische Briefkasten, wenn er seine ursprüng-
liche Farbe nicht verloren hat. Es ist interessant , daß die Zitrone gelb ist
(scharfe Säure), der Kanarienvogel gelb ist (scharfes Singen). Hier ist eine
besondere Intensität des farbigen Tones vorhanden.
■) Das Korrespondieren der farbigen und musikalischen Töne ist selbst-
verständlich nur relativ. Ebenso wie eine Geige sehr verschiedene Töne ent-
wickeln kann, die verschiedenen Farben entsprechen können, so ist es z. B.
auch bei dem Gelb, welches in verschiedenen Nuancen durch verschiedene Instru-
mente ausgedrückt werden kann. Man denkt sich bei solchen hier stehenden
Parallelismen hauptsächlich den mittelklingenden reinen farbigen Ton und in
der Musik den mittleren Ton ohne Variierung desselben durch Vibrieren,
Dämpfer etc.
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 77
schwendung der letzten Sommerkräfte im grellen Herbstlaub, von
welchem das beruhigende Blau genommen wird und zum Himmel
steigt. Es entstehen Farben von einer tollen Kraft, welcher die Ver-
tiefungsgabe ganz fehlt.
Diese Vertiefungsgabe finden wir im Blau und ebenso erst theo-
retisch in ihren physischen Bewegungen 1. vom Menschen weg und 2.
zum eigenen Zentrum. Und ebenso, wenn man das Blau (in jeder ge-
wünschten geometrischen Form) auf das Gemüt wirken läßt. Die
Neigung des Blau zur Vertiefung ist so groß, daß es gerade in tieferen
Tönen intensiver wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je tiefer
das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche,
weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem.
Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir ihn uns vorstellen bei dem
Klange des Wortes Himmel.
Blau ist die typisch himmlische Farbe 1 ). Sehr tief-
gehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe 2 ). Zum Schwarzen
*) . . . les nymbes . . . sont dores pour l'empereur et les prophetes (also
für Menschen) et bleu de ciel pour les personnages symboliques (also für
nur geistig existierende Wesen). (Kondakoff, N. Histoire de Part bysantin consid.
princip. dans les miniatures. Paris 1886 — 1891. Vol. II, p. 38,2.)
2 ) Nicht wie Grün — welches, wie wir später sehen werden, irdische, selbst-
zufriedene Ruhe ist — sondern feierliche, überirdische Vertiefung. Dies ist
buchstäblich zu verstehen: auf dem Wege zu diesem „über" liegt das „irdische",
welches nicht zu vermeiden ist. Alle Qualen, Fragen, Widersprüche des Irdi-
schen müssen erlebt werden. Keiner hat sich ihnen entzogen. Auch hier ist
innere Notwendigkeit, die durch das Äußere verdeckt wird. Die Erkenntnis
dieser Notwendigkeit ist die Quelle der „Ruhe". Da uns aber diese Ruhe
am entferntesten liegt, so können wir uns auch im Farbenreiche dem Über-
wiegen des Blau innerlich schwer nähern.
78 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer J ).
Es wird eine unendliche Vertiefung in die ernsten Zustände, wo es
kein Ende gibt und keines geben kann. Ins Helle übergehend, wozu
das Blau auch weniger geeignet ist, wird es von gleichgültigerem Cha-
rakter und stellt sich zum Menschen weit und indifferent, wie der
hohe hellblaue Himmel. Je heller also, desto klangloser, bis es zur
schweigenden Ruhe übergeht — weiß wird. Musikalisch dargestellt
ist helles Blau einer Flöte ähnlich, das dunkle dem Cello, immer tiefer
gehend den wunderbaren Klängen der Baßgeige; in tiefer, feierlicher
Form ist der Klang des Blau dem der tiefen Orgel vergleichbar.
Das Gelb wird leicht akut und kann nicht zu großer Vertiefung
sinken. Das Blau wird schwer akut und kann nicht zu großer Steige-
rung sich heben.
Ideales Gleichgewicht in der Mischung dieser zwei in allem dia-
metral verschiedenen Farben bildet das Grün. Die horizontalen Be-
wegungen vernichten sich gegenseitig. Die Bewegungen aus und ins
Zentrum vernichten sich ebenso. Es entsteht Ruhe. Dies ist der
logische Schluß, welcher theoretisch leicht zu erzielen ist. Und das
direkte Wirken auf das Auge und schließlich durch das Auge auf die
Seele führt zu demselben Resultat. Diese Tatsache ist längst nicht
nur den Ärzten (speziell Augenärzten), sondern allgemein bekannt.
Absolutes Grün ist die ruhigste Farbe, die es gibt: sie bewegt sich
nach nirgend hin und hat keinen Beiklang der Freude, Trauer, Leiden-
schaft, sie verlangt nichts, ruft nirgend hin. Diese ständige Abwesen-
i) Auch anders als violett, wie dieses weiter unten bezeichnet wird.
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 79
heit der Bewegung ist eine Eigenschaft, die auf ermüdete Menschen
und Seelen wohltuend wirkt, aber nach einiger Zeit des Ausruhens
leicht langweilig werden kann. Die in grüner Harmonie gemalten
Bilder bestätigen diese Behauptung. Wie das in Gelb gemalte Bild
immer eine geistige Wärme ausströmt, oder ein blaues zu abkühlend
erscheint (also aktive Wirkung, da der Mensch als ein Element des Welt-
alls zu ständiger, vielleicht ewiger Bewegung geschaffen ist), so wirkt
das Grüne nur langweilend (passive Wirkung). Die Passivität ist
die charaktervollste Eigenschaft des absoluten Grün, wobei diese Eigen-
schaft von einer Art Fettheit, Selbstzufriedenheit parfümiert wird. Des-
wegen ist das absolute Grün im Farbenreich das, was im Menschen-
reich die sogen. Bourgeoisie ist: es ist ein unbewegliches, mit sich
zufriedenes, nach allen Richtungen beschränktes Element. Dies Grün
ist wie eine dicke, sehr gesunde, unbeweglich liegende Kuh, die nur
zum Wiederkauen fähig mit blöden, stumpfen Augen die Welt be-
trachtet 1 ). Grün ist die Hauptfarbe des Sommers, wo die Natur die
Sturm- und Drangperiode des Jahres, den Frühling überstanden hat
und in eine selbstzufriedene Ruhe getaucht ist. (Siehe Tabelle II.)
Wenn das absolute Grün aus dem Gleichgewicht gebracht wird,
so steigt es zu Gelb, wobei es lebendig wird, jugendlich und freudig.
Es ist wieder durch Beimischung von Gelb eine aktive Kraft eingetreten.
Ins Tiefe sinkend, bei Übergewicht von Blau, bekommt das Grün einen
ganz anderen Klang: es wird ernst und sozusagen nachdenklich. Da
x ) So wirkt auch das ideale, viel gepriesene Gleichgewicht. Wie gut Christus
auch das gesagt hat: „Du bist weder kalt noch warm . . ."
Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst 6
80 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
tritt also auch ein aktives Element ein, aber vollständig anderen Cha-
rakters wie bei dem Erwärmen von Grün.
Bei Übergang ins Helle oder Dunkle behält das Grün den ursprüng-
lichen Charakter der Gleichgültigkeit und Ruhe, wobei im Hellen die
erstere, im Dunkeln die letztere stärker klingt, was auch natürlich
ist, da diese Änderungen durch Weiß und Schwarz erzielt werden.
Musikalisch möchte ich das absolute Grün wohl am besten durch
ruhige, gedehnte, mitteltiefe Töne der Geige bezeichnen.
Diese letzten zwei Farben — Weiß und Schwarz — sind schon
im allgemeinen definiert worden. Bei der näheren Bezeichnung ist das
Weiß, welches oft für eine Nichtfarbe gehalten wird (besonders ^
dank den Impressionisten, die „kein Weiß in der Natur" 1 ) sehen), wie
ein Symbol einer Welt, wo alle Farben, als materielle Eigenschaften
und Substanzen, verschwunden sind. Diese Welt ist so hoch über uns,
*) Van Gogh stellt in seinen Briefen die Frage, ob er nicht eine weiße
Mauer direkt weiß malen könnte. Diese Frage, die für einen Nichtnaturalisten
keine Schwierigkeiten bieten kann, da er Farbe als inneren Klang braucht, er-
scheint einem impressionistisch-naturalistischen Maler als ein kühnes Attentat
auf die Natur. Diese Frage muß dem letzteren Maler ebenso revolutionär vor-
kommen , wie seinerzeit revolutionär und verrückt die Änderung der braunen
Schatten in blaue schien (das beliebte Beispiel vom „grünen Himmel und
blauen Gras"). Wie im letzteren Falle der Übergang vom Akademismus und
Realismus zum Impressionismus und Naturalismus zu erkennen ist, so ist in der
Frage van Goghs der Kern der „Übersetzung der Natur" zu bemerken, d. h.
der Neigung, die Natur nicht als äußerliche Erscheinung darzustellen, sondern
überwiegend das Element der inneren Impression, die kürzlich E x -
pression genannt wurde, kundzugeben.
TABELLE II
Zweites Paar
der Gegensätze: III und IV
III Rot
I Bewegung
Bewegung in sich
(physikalischen Charakters, als
Komplementärfarben)
Grün = III. Gegensatz
der geistig gelöschte
I. Gegensatz.
= Beweglichkeit in Potenz
= Unbeweglichkeit
Ex- und konzentrische Bewegungen fehlen ganz.
Bei optischer Mischung = Grau
wie bei mechanischer von Weiß und Schwarz = Grau
IV
Orange
Violett
IV. Gegensatz
entstanden aus dem I Gegensatz durch
1. aktives Element des Gelb in Rot — Orange
2. passives Element des Blau in Rot = Violett
nach exzentrischer
Richtung
Bewegung
in sich
nach konzentrischer
Richtung
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 81^
daß wir keinen Klang von dort hören können. Es kommt ein großes
Schweigen von dort, welches, materiell dargestellt, wie eine unüber-
steigliche, unzerstörbare, ins Unendliche gehende kalte Mauer uns vor-
kommt. Deswegen wirkt auch das Weiß auf unsere Psyche als ein
großes Schweigen, welches für uns absolut ist. Es klingt innerlich
wie ein Nichtklang, was manchen Pausen in der Musik ziemlich ent-
spricht, den Pausen, welche nur zeitlich die Entwicklung eines Satzes
oder Inhaltes unterbrechen und nicht ein definitiver Abschluß einer Ent-
wicklung sind. Es ist ein Schweigen, welches nicht tot ist, sondern
voll Möglichkeiten. Das Weiß klingt wie Schweigen, welches plötzlich
verstanden werden kann. Es ist ein Nichts, welches jugendlich ist oder,
noch genauer, ein Nichts, welches vor dem Anfang, vor der Geburt
ist. So klang vielleicht die Erde zu den weißen Zeiten der Eisperiode.
Und wie ein Nichts ohne Möglichkeit, wie ein totes Nichts nach
dem Erlöschen der Sonne, wie ein ewiges Schweigen ohne Zukunft
und Hoffnung klingt innerlich das Schwarz. Es ist musikalisch dar-
gestellt wie eine vollständig abschließende Pause, nach welcher eine
Fortsetzung kommt wie der Beginn einer andern Welt, da das durch
diese Pause Abgeschlossene für alle Zeiten beendigt, ausgebildet ist:
der Kreis ist geschlossen. Das Schwarz ist etwas Erloschenes, wie ein
ausgebrannter Scheiterhaufen, etwas Unbewegliches, wie eine Leiche,
was zu allen Ereignissen nicht fühlend steht und alles von sich gleiten
läßt. Es ist wie das Schweigen des Körpers nach dem Tode, dem
Abschluß des Lebens. Das ist äußerlich die klangloseste Farbe, auf
welcher deswegen jede andere Farbe, auch die am schwächsten klin-
gende, stärker und präziser klingt. Nicht wie auf Weiß, auf welchem
82 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
beinahe alle Farben sich im Klange trüben und manche ganz zerfließen,
einen schwachen, entkräfteten Klang hinterlassen 1 ).
Nicht umsonst wurde Weiß als reiner Freude Gewand gewählt
und unbefleckter Reinheit. Und Schwarz als Gewand der größten,
tiefsten Trauer und als Symbol des Todes. Das Gleichgewicht dieser
beiden Farben, welches durch mechanische Mischung entsteht, bildet
Grau. Natürlich kann eine derartig entstandene Farbe keinen äußeren
Klang und keine Bewegung bieten. Grau ist klanglos und unbeweglich.
Diese Unbeweglichkeit ist aber eines anderen Charakters wie die Ruhe
des Grün, welches zwischen zwei aktiven Farben liegt und ihr Produkt
ist. Das Grau ist deswegen die Unbeweglichkeit, die trostlos ist. Je
dunkler dieses Grau wird, desto mehr Übergewicht bekommt das Trost-
lose, kommt das Erstickende zur Geltung. Bei Aufhellen kommt eine
Art Luft, Möglichkeit des Atmens in die Farbe, die ein gewisses Element
von versteckter Hoffnung enthält. Ein ähnliches Grau entsteht durch
optische Mischung von Grün und Rot: es entsteht aus geistiger Mischung
der selbstzufriedenen Passivität und eines starken aktiven Glühens in
sich 8 ).
Das Rot, so wie man es sich denkt, als grenzenlose, charakteristisch
warme Farbe, wirkt innerlich als eine sehr lebendige, lebhafte, unruhige
!) Das Zinnoberrot z. B. klingt auf Weiß matt und schmutzig, auf Schwarz
bekommt es eine grelle, reine verblüffende Kraft. Hellgelb wird schwach,
zerfließend auf Weiß; auf Schwarz wirkt es so stark, daß es sich direkt vom
Hintergrunde befreit, in der Luft schwebt und ins Auge springt.
! ) Grau — Unbeweglichkeit und Ruhe. Dieses ahnte schon Delacroix,
welcher Ruhe durch Mischung von Grün und Rot erzielen wollte (Signac o. c).
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 83
Farbe, die aber nicht den leichtsinnigen Charakter des sich nach allen
Seiten verbrauchenden Gelb besitzt, sondern trotz aller Energie und
Intensität eine starke Note von beinahe zielbewußter immenser Kraft
zeugt. Es ist in diesem Brausen und Glühen hauptsächlich in sich
und sehr wenig nach außen, eine sozusagen männliche Reife (siehe
Tabelle II).
Dieses Ideale Rot kann aber in realer Wirklichkeit große Änderungen,
Abschweifungen und Verschiedenheiten dulden. Das Rot ist sehr reich
und verschieden in der materiellen Form. Man denke sich nur: Saturn-
rot, Zinnoberrot, Englischrot, Krapplack, vom hellsten in die dunkelsten
Töne ! Diese Farbe zeigt die Möglichkeit, den Grundton ziemlich zu be-
halten und dabei charakteristisch warm oder kalt auszusehen 1 ).
Das helle warme Rot (Saturn) hat eine gewisse Ähnlichkeit mit
Mittelgelb (enthält auch als Pigment ziemlich viel Gelb) und erweckt das
Gefühl von Kraft, Energie, Streben, Entschlossenheit, Freude, Triumph
(lauter) usw. Es erinnert musikalisch auch an den Klang der Fanfaren,
wobei die Tuba beiklingt — hartnäckiger, aufdringlicher, starker Ton.
Im mittleren Zustande, wie Zinnober, gewinnt das Rot an der
Beständigkeit des scharfen Gefühls: es ist wie eine gleichmäßig glü-
hende Leidenschaft, eine in sich sichere Kraft, die nicht leicht zu über-
tönen ist, die sich aber durch Blau löschen läßt, wie glühendes Eisen
durch Wasser. Dieses Rot verträgt überhaupt nichts Kaltes und ver-
liert durch dasselbe an seinem Klang und Sinn. Oder besser zu sagen :
*) Warm und kalt kann freilich jede Farbe sein , aber nirgend findet man
diesen Oegensatz so groß wie beim Rot. Eine Fülle von inneren Möglichkeiten !
84 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
diese gewaltsame, tragische Abkühlung erzeugt einen Ton, welcher als
„Schmutz" besonders heute von Malern vermieden und verpönt
wird. Und dieses mit Unrecht. Der Schmutz in materieller Form als
materielle Vorstellung, als materielles Wesen besitzt jedem anderen
Wesen gleich seinen inneren Klang. Deshalb ist das Vermeiden des
Schmutzes in der Malerei heute ebenso ungerecht und einseitig, wie die
gestrige Angst vor „reiner" Farbe es war. Nie soll vergessen werden,
daß alle Mittel rein sind, die aus innerer Notwendigkeit entspringen.
Hier ist das äußerlich Schmutzige innerlich rein. Sonst ist das äußerlich
Reine innerlich schmutzig. Mit Gelb verglichen sind Saturn- und Zin-
noberrot ähnlichen Charakters, wobei aber das Streben zum Menschen
viel geringer ist: dieses Rot glüht, aber mehr in sich, der etwas wahn-
sinnige Charakter des Gelb fehlt ihm beinahe ganz. Deswegen wird
es vielleicht mehr geliebt als Gelb: es wird gerne und viel in primi-
tiver, volkstümlicher Ornamentik gebraucht und auch viel in Volks-
trachten verwendet, wo es im Freien als Komplementärfarbe zu Grün
besonders „schön" wirkt. Dieses Rot ist hauptsächlich materiellen und
sehr aktiven Charakters (isoliert genommen) und nicht zur Vertiefung
geneigt, ebenso wie Gelb. Nur durch das Eindringen in ein höheres
Milieu bekommt dieses Rot einen tieferen Klang. Das Vertiefen durch
Schwarz ist gefährlich, da das tote Schwarz die Glut löscht und auf
das Minimum reduziert. Es entsteht aber dabei das stumpfe, harte,
wenig zur Bewegung fähige Braun, in welchem das Rot wie ein
kaum hörbares Brodeln klingt. Und trotzdem entspringt diesem äußer-
lich leisen Klang ein lauter gewaltsamer innerer. Durch notwendige
Anwendung des Braun entsteht eine unbeschreibliche innere Schönheit :
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 85
das Hemmen. Zinnoberrot klingt wie die Tuba und kann in Parallele
gezogen werden mit starken Trommelschlägen.
Wie jede im Grunde kalte Farbe, läßt sich auch das kalte Rot
(wie Krapplack) sehr vertiefen (besonders durch Lasur). Es verändert
sich auch erheblich im Charakter: der Eindruck des tieferen Glühens
wächst, das Aktive verschwindet aber allmählich ganz. Dieses Aktive
ist aber andererseits nicht so vollkommen abwesend, wie z. B. im tiefen
Grün, sondern läßt eine Ahnung, ein Erwarten eines neuen energischen
Aufglühens wie etwas, was sich in sich zurückgezogen hat, was aber
auf der Lauer liegt und die versteckte Fähigkeit in sich birgt oder hatte,
einen wilden Sprung zu machen. Darin liegt auch der große Unterschied
zwischen ihm und der Vertiefung des Blau, da bei Rot auch in dieser
Lage doch etwas vom Körperlichen zu spüren ist. Es erinnert doch an
ein Element von Leidenschaften tragende, mittlere und tiefere Töne
des Cello. Das kalte Rot, wenn es hell ist, gewinnt noch mehr an
Körperlichem, aber an reinem Körperlichen, klingt wie jugendliche, reine
Freude, wie eine frische, junge, ganz reine Mädchengestalt. Dieses Bild
ist leicht durch höhere klare, singende Töne der Geige zu musikalischem
Ausdruck zu bringen 1 ). Diese Farbe, nur durch Beimischung von Weiß
intensiv werdend, ist als Kleidungsfarbe beliebt für junge Mädchen.
Das warme Rot, durch verwandtes Gelb erhöht, bildet Orange.
Durch diese Beimischung wird die Bewegung in sich des Rot zum
Anfang der Bewegung des Ausstrahlens, des Zerfließens in die Um-
x ) Reine, freudige, oft nacheinander folgende Töne kleiner Glocken (auch
Pferdeschellen) werden im Russischen als „himbeerfarbenes Klingen" bezeichnet.
Die Farbe des Himbeersaftes liegt nahe dem eben beschriebenen hell und kalt Rot.
86 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
gebung gebracht. Das Rote aber, welches eine große Rolle im Orange
spielt, erhält dieser Farbe den Beiklang des Ernstes. Es ist einem
von seinen Kräften überzeugten Menschen ähnlich und ruft deswegen
ein besonders gesundes Gefühl hervor. Wie eine mittlere Kirchenglocke,
die zum Angelus ruft, klingt diese Farbe, oder wie eine starke Alt-
stimme, wie eine Largo singende Altgeige.
Wie Orange entsteht durch das Näherziehen des Rot zum Menschen,
ebenso entsteht durch das Zurückziehen des Rot durch Blau das
Violett, welches die Neigung hat, vom Menschen sich weg zu be-
wegen. Dieses im Grunde liegende Rot muß aber kalt sein, da das Warm
des Rot mit dem Kalt des Blau sich nicht mischen läßt (durch kein
Verfahren), was auch auf dem Gebiete des Geistigen stimmt.
Violett ist also ein abgekühltes Rot im physischen und psychischen
Sinne. Es hat deswegen etwas Krankhaftes, Erlöschtes (Kohlen-
schlacken!), hat etwas Trauriges in sich. Diese Farbe wird nicht um-
sonst als passend für Kleider alter Frauen gehalten. Die Chinesen
brauchen sie direkt als Farbe der Trauerkleider. Es ist dem Klange
ähnlich des englischen Horns, der Schalmei, und in der Tiefe den tiefen
Tönen der Holzinstrumente (z. B. Fagott) 1 ).
Beide letzte Farben, die aus einem Summieren von Rot mit Gelb
oder Blau entstehen, sind von einem wenig labilen Gleichgewicht. Bei
der Mischung der Farben beobachtet man die Neigung derselben,
das Gleichgewicht zu verlieren. Man bekommt das Gefühl eines Seil-
*) Unter Künstlern antwortet man manchmal scherzweise auf die Frage
nach dem Befinden: „ganz Violett", was nichts Erfreuliches bedeutet.
TABELLE III
\ Weiss /
\ Schwarz /
Die Gegensätze als Ring zwischen zwei Polen
einfachen Farben zwischen Geburt und Tod. -
das Leben der
(Die römischen Zahlen bedeuten die Paare der Gegensätze.)
(c
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 87
tänzers, welcher aufpassen und nach beiden Seiten fortwährend balan-
cieren muß. Wo beginnt Orange und hört das Gelb, das Rot auf?
Wo ist die Grenze des Violetts, welche es streng von Rot oder Blau
trennt 1 )?
Beide zuletzt charakterisierten Farben (Orange und Violett) sind
der vierte und letzte Gegensatz im Farbenreiche der einfachen
primitiven Farbentöne, wobei sie zueinander stehen im physikalischen
Sinne so wie die des dritten Gegensatzes (Rot und Grün), d. h. als
Komplementärfarben (siehe Tabelle II).
Wie ein großer Kreis, wie eine sich in den Schwanz beißende
Schlange (das Symbol der Unendlichkeit und Ewigkeit) stehen vor uns
die sechs Farben, die in Paaren drei große Gegensätze bilden. Und
rechts und links die zwei großen Möglichkeiten des Schweigens; das
des Todes und das der Geburt (siehe Tabelle III).
Es ist klar, daß alle die gebrachten Bezeichnungen dieser nur ein-
fachen Farben sehr provisorisch und grob sind. So sind auch die Ge-
fühle, die als Bezeichnungen der Farben gebracht wurden (wie Freude,
Trauer usw.). Diese Gefühle sind auch nur materielle Zustände der
Seele. Die Töne der Farben, ebenso wie die der Musik, sind viel feinerer
Natur, erwecken viel feinere Vibrationen der Seele, die mit Worten
') Das Violett hat auch eine Neigung, zum Lila überzugehen. Und wann
endet dies und fängt das andere an?
88 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
nicht zu bezeichnen sind. Jeder Ton kann sehr wahrscheinlich mit der
Zeit einen Ausdruck auch im materiellen Wort finden, es wird aber
immer noch ein übriges bleiben, was vom Worte nicht vollständig
ausgeschöpft werden kann, was aber nicht eine luxuriöse Beigabe des
Tones ist, sondern gerade das Wesentliche in demselben. Deswegen sind
und bleiben Worte nur Winke, ziemlich äußerliche Kennzeichen der
Farben. In dieser Unmöglichkeit, das Wesentliche der Farbe durch
das Wort und auch durch andere Mittel zu ersetzen, liegt die Möglich-
keit der monumentalen Kunst. Hier unter sehr reichen und verschie-
denen Kombinationen ist eine zu finden, die gerade auf der eben fest-
gestellten Tatsache ruht. Und nämlich : derselbe innere Klang kann
hier in demselben Augenblicke durch verschiedene Künste gebracht
werden, wobei jede Kunst außer diesem allgemeinen Klang noch das
ihr geeignete wesentliche Plus zeigen wird und dadurch einen Reich-
tum und eine Gewalt dem allgemeinen innern Klang hinzufügen wird,
die durch eine Kunst nicht zu erreichen sind.
Welche dieser Harmonie an Kraft und Tiefe gleichkommenden Dis-
harmonien und unendlichen Kombinationen mit dem Übergewicht einer
Kunst, mit dem Übergewicht der Gegensätze verschiedener Künste auf
dem Grund still mitklingender anderer usw. usw. dabei möglich sind,
kann jedem klar werden.
Oft hört man die Meinung, daß die Möglichkeit, eine Kunst durch
andere zu ersetzen (z. B. durch das Wort resp. die Literatur), die
Notwendigkeit der Verschiedenheit der Künste widerlegen würde. Das
ist aber nicht der Fall. Wie gesagt, ist eine genaue Wiederholung des-
selben Klanges durch verschiedene Künste nicht möglich. Wenn dieses
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 89
aber auch möglich wäre, so würde doch die Wiederholung desselben
Klanges wenigstens äußerlich anders gefärbt werden. Wenn aber auch
dies nicht der Fall wäre, wenn also die Wiederholung durch ver-
schiedene Künste desselben Klanges ganz genau jedesmal denselben
Klang (äußerlich und innerlich) erzielen würde, so würde auch eine
derartige Wiederholung nicht überflüssig sein. Schon deswegen, weil
verschiedene Menschen für verschiedene Künste begabt sind (aktiv oder
passiv, d. h. als Absender oder als Empfänger des Klanges). Wenn
aber auch dieses nicht der Fall wäre, so würde doch dadurch die
Wiederholung nicht einfach bedeutungslos werden. Das Wiederholen
derselben Klänge, die Aufhäufung derselben verdichtet die geistige
Atmosphäre, die notwendig ist zum Reifen der Gefühle (auch der
feinsten Substanz), so wie zum Reifen verschiedener Früchte die ver-
dichtete Atmosphäre eines Treibhauses notwendig, eine absolute Be-
dingung zum Reifen ist. Ein leises Beispiel davon ist der einzelne
Mensch, auf welchen Wiederholung von Handlungen, Gedanken, Ge-
fühlen einen schließlich gewaltigen Eindruck macht, wenn er auch wenig
fähig ist, die einzelnen Handlungen usw. intensiv aufzusaugen, wie
ein ziemlich dichter Stoff die ersten Regentropfen 1 ).
Man muß sich aber nicht nur in diesem beinahe greifbaren Bei-
spiel die geistige Atmosphäre vorstellen. Diese ist geistig dasselbe
wie die Luft, die auch rein oder von verschiedenen fremden Elementen
erfüllt sein kann. Nicht nur Handlungen, die jeder beobachten kann,
und Gedanken und Gefühle, die äußeren Ausdruck haben können,
x ) Äußerlich ist auf dieser Wiederholung die Wirkung der Reklame basiert.
90 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
sondern auch ganz versteckte Handlungen, von welchen „niemand was
weiß", nicht ausgesprochene Gedanken, nicht zum äußeren Ausdruck
gekommene Gefühle (also Handlungen im Menschen) sind die Ele-
mente, die die geistige Atmosphäre bilden. Selbstmorde, Morde, Ge-
walttaten, unwürdige, niedere Gedanken, Haß, Feindseligkeit, Egois-
mus, Neid, „Patriotismus", Parteilichkeit sind geistige Gestalten, die
Atmosphäre schaffenden geistigen Wesen J ). Und umgekehrt Selbst-
opfer, Hilfe, reine hohe Gedanken, Liebe, Altruismus, Freude an
anderer Glück, Humanität, Gerechtigkeit sind eben solche Wesen, die
die ersteren, wie die Sonne die Mikroben, töten und reine Atmosphäre
herstellen 2 ).
Die andere (kompliziertere) Wiederholung ist die, an welcher ver-
schiedene Elemente in verschiedener Form teilnehmen. In unserem
Falle verschiedene Künste (also realisiert und summiert — die mo-
numentale Kunst). Diese Form der Wiederholung ist noch gewaltiger,
da verschiedene Menschennaturen verschieden auf einzelne Mittel
reagieren; für die eine ist die zugänglichste die musikalische Form (die
überhaupt auf alle wirkt — die Ausnahmen sind zu selten), der zweiten
— die malerische, der dritten — die literarische usw. Außerdem sind
x ) Es gibt Perioden der Selbstmorde, der feindlichen Kriegsgefühle etc.
Krieg und Revolution (letztere in kleinerer Dosis als der Krieg) sind Produkte
solcher Atmosphäre, welche durch sie weiter verpestet wird. Mit dem Maß,
mit dem du mißt, wird auch dir gemessen werden!
2 ) Solche Zeiten kennt die Geschichte auch. War eine größere da, als das
Christentum, welches die Schwächsten in den geistigen Kampf mitriß? Auch
im Kriege und der Revolution gibt es Agenzien, die zu dieser Gattung gehören
und die ebenso die Pestluft entdichten.
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 91^
die in verschiedenen Künsten verborgenen Kräfte im Grunde ver-
schieden, so daß sie das zu erzielende Resultat auch bei denselben
Menschen steigern, wenn auch jede Kunst auf eigene Faust isoliert
arbeitet.
Dieses schwer definierbare Wirken der einzelnen isolierten Farbe
ist der Grund, auf welchem verschiedene Werte harmonisiert
werden. Es werden Bilder (kunstgewerblich — ganze Einrichtungen)
in einem Lokalton gehalten, welcher nach künstlerischem Gefühle ge-
wählt wird. Das Durchdringen eines farbigen Tones, das Zusammen-
binden zweier nebeneinander liegender Farben durch Beimischung einer
zur anderen ist die Basis, auf welcher oft die farbige Harmonie auf-
gebaut wurde. Aus dem eben über Farbenwirkungen Gesagten, aus
der Tatsache, daß wir zu einer Zeit leben, die voll von Fragen,
Ahnungen, Deutungen ist und deswegen voll von Widersprüchen (man
denke auch an die Schichten des Dreiecks), können wir leicht die Folge
ziehen, daß gerade unserer Zeit ein Harmonisieren auf dem Grunde
der einzelnen Farbe am wenigsten passend ist. Vielleicht neidisch,
mit trauriger Sympathie können wir die Mozartschen Werke emp-
fangen. Sie sind uns eine willkommene Pause im Brausen unseres
inneren Lebens, ein Trostbild und eine Hoffnung, aber wir hören sie
doch wie Klänge aus anderer, vergangener, im Grunde uns fremder
Zeit. Kampf der Töne, das verlorene Gleichgewicht, fallende „Prin-
zipien", unerwartete Trommelschläge, große Fragen, scheinbar zielloses
Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst 7
92 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Streben, scheinbar zerrissener Drang und Sehnsucht, zerschlagene Ketten
und Bänder, die mehrere zu einem machen, Gegensätze und Wider-
sprüche — das ist unsere Harmonie. Auf dieser Harmonie fußende
Komposition ist eine Zusammenstellung farbiger und
zeichnerischer Formen, die als solche selbständig
existieren, von der inneren Notwendigkeit heraus-
geholt werden und im dadurch entstandenen gemein-
samen Leben ein Ganzes bilden, welches Bild heißt.
Nur diese einzelnen Teile sind wesentlich. Alles übrige (also auch
das Behalten des gegenständlichen Elements) ist nebensächlich. Dieses
Übrige ist nur Beiklang.
Logisch fließt daraus auch die Zusammenstellung zweier farbiger
Töne miteinander. Auf demselben Prinzip der Antilogik werden jetzt
Farben nebeneinander gestellt, die lange Zeit für disharmonisch galten.
So ist es z. B. mit der Benachbarung von Rot und Blau, dieser in
keinem physikalischen Zusammenhang stehenden Farben, die aber
gerade durch den großen geistigen Gegensatz unter ihnen als
eine der stärkst wirkenden, eine der best passenden Harmonien heute
gewählt werden. Unsere Harmonie ruht hauptsächlich auf dem Prinzip
des Gegensatzes, dieses zu allen Zeiten größten Prinzips in der Kunst.
Unser Gegensatz ist aber der des inneren Gegensatzes, welcher allein
dasteht und jede Hilfe (heute Störung und Überflüssigkeit) anderer
harmonisierender Prinzipien ausschließt!
Merkwürdig, daß gerade diese Zusammenstellung von Rot und
Blau dermaßen bei den Primitiven beliebt war (bei den alten Deutschen,
Italienern usw.), daß sie sich bis heute in den Überbleibseln dieser
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 93
Zeit (z. B. der volkstümlichen Form der Herrgottschnitzerei) erhalten
hat 1 ). Sehr oft sieht man in solchen Werken der Malerei und farbigen
Plastik die Mutter Gottes im roten Hemd mit einem übergeworfenen
blauen Überkleid; es scheint, als ob die Künstler die himmlische
Gnade bezeichnen wollten, die auf den irdischen Menschen ge-
sandt wurde und das Menschliche durch das Göttliche ver-
deckte. Logisch fließt aus der Bezeichnung unserer Harmonie, daß
gerade „heute" die innere Notwendigkeit ein unendlich großes Arsenal
der Ausdrucksmöglichkeiten braucht.
„Erlaubte", „unerlaubte" Zusammenstellungen, der Zusammenstoß
der verschiedenen Farben, das Übertönen einer durch die andere,
vieler durch eine, das Herausklingen einer aus der anderen, das Prä-
zisieren des farbigen Fleckes, das Auflösen ein- und vielseitiger, das
Zurückhalten des fließenden Farbenfleckes durch zeichnerische Grenze,
das Übersprudeln dieses Fleckes über diese Grenze, das Ineinander-
fließen, das scharfe Abtrennen usw. usw. eröffnen eine sich in un-
erreichbare Fernen verlierende Reihe der reinmalerischen (= farbigen)
Möglichkeiten.
Die Abwendung vom Gegenständlichen und einer der ersten Schritte
in das Reich des Abstrakten war in zeichnerisch-malerischer Beziehung
das Ausschließen der dritten Dimension, d. h. das Streben, das „Bild"
als Malerei auf einer Fläche zu behalten. Es wurde die Modellierung
ausgeschaltet. Dadurch wurde der reale Gegenstand zum abstrakteren
x ) Mit vielen koloristischen Entschuldigungen brachte in seinen früheren
Bildern diese Zusammenstellung wahrscheinlich als einer der ersten noch „gestern"
Frank. Brangwin.
94 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
gerückt, was einen gewissen Fortschritt bedeutete. Dieser Fortschritt
hatte aber sofort zur Folge das Annageln der Möglichkeiten an eine
reale Fläche der Leinwand, wodurch die Malerei einen neuen durchaus
materiellen Beiklang gewann. Dieses Annageln war gleichzeitig eine
Beschränkung der Möglichkeiten.
Das Streben, sich von diesem Materiellen und dieser Beschränkung
zu befreien, vereint mit dem Streben zum Kompositionellen, mußte na-
türlich zum Verzicht auf eine Fläche bringen. Es wurde versucht,
das Bild auf eine ideelle Fläche zu bringen, die sich dadurch vor der
materiellen Fläche der Leinwand bilden mußte 1 ). So entstand aus der
Komposition mit flachen Dreiecken eine Komposition mit plastisch
gewordenen, dreidimensionalen Dreiecken, d. h. mit Pyramiden (der
sogenannte „Kubismus"). Es entstand aber auch hier sehr bald die
Inertionsbewegung, die gerade auf diese Form sich konzentrierte und
so wieder zur Verarmung an Möglichkeiten führte. Das ist das un-
vermeidliche Resultat der äußerlichen Anwendung eines aus innerer
Notwendigkeit entsprungenen Prinzips.
Gerade in diesem Falle von ausschließlich großer Wichtigkeit soll
man nicht vergessen, daß es auch andere Mittel gibt, die materielle
Fläche zubehalten, eine ideelle Fläche zu bilden und die letztere nicht nur
als eine flache Fläche zu fixieren, sondern sie als dreidimensionalen Raum
auszunützen. Schon die Dünne oder die Dicke einer Linie, weiter das
Stellen der Form auf der Fläche, das Überschneiden einer Form durch
i) Siehe z. B. den Artikel von Le Fauconnier in dem Katalog der
II. Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München (1910—11).
VI. FORMEN- UND FARBENSPRACHE 95
die andere sind als Beispiele für die zeichnerische Ausdehnung des
Raumes genügend. Ähnliche Möglichkeiten bietet die Farbe, die, richtig
angewendet, vor- oder zurücktreten und vor- oder zurückstreben kann
und das Bild zu einem in der Luft schwebenden Wesen machen kann,
was der malerischen Ausdehnung des Raumes gleichbedeutend ist.
Das Vereinen der beiden Ausdehnungen im Mit- oder Widerklang
ist eines der reichsten und gewaltigsten Elemente der zeichnerisch-
malerischen Komposition.
Vll.
THEORIE
Aus der Charakteristik unserer heutigen Harmonie folgt von selbst,
daß es zu unserer Zeit weniger als je möglich ist, eine vollkommen
fertige Theorie zu bauen 1 ), einen konstruierten malerischen General-
l ) Solche Versuche wurden gemacht. Dazu trägt viel bei der Parallelismus
mit der Musik, z. B. „Tendances Nouvelles", Nr. 35 : Henri R o v e 1 — Les
lois d'harmonie de la peinture et de la musique sont les meines (P. 721).
VII. THEORIE 97
baß zu schaffen. Solche Versuche würden in der Praxis zum selben
Resultat führen, welches z. B. die schon erwähnten Löffelchen Leonardo
da Vincis gebracht haben. Aber zu behaupten, daß es in der Malerei
nie feste Regeln, an Generalbaß erinnernde Prinzipien geben wird,
oder daß dieselben stets nur zu Akademismus führen werden, wäre
doch übereilt. Auch die Musik kennt ihre Grammatik, die aber wie
alles Lebende sich in großen Perioden verändert, die andererseits
gleichzeitig, als Hilfe, als eine Art Wörterbuch immer erfolgreiche
Anwendung fand.
Unsere Malerei ist aber wieder heute in einem anderen Zustand;
ihre Emanzipation von der direkten Abhängigkeit von der „Natur"
ist im allerersten Anfange. Wenn bis jetzt die Farbe und Form als
innere Agentien verwendet wurden, so war es hauptsächlich unbewußt.
Das Unterordnen der Komposition einer geometrischen Form wurde
schon in alter Kunst angewandt (z. B. bei den Persern). Das Bauen
aber auf der rein geistigen Basis ist eine lange Arbeit, die erst ziemlich
blind und aufs Geratewohl beginnt. Dabei ist es nötig, daß der Maler
außer seinen Augen auch seine Seele kultiviert, damit sie auch fähig
wird, die Farbe auf ihrer Wage zu wiegen und nicht nur beim Emp-
fangen der äußeren Eindrücke (auch freilich hie und da der inneren),
sondern als bestimmende Kraft beim Entstehen ihrer Werke tätig ist.
Wenn wir schon heute anfangen würden, ganz das Band, das uns
mit der Natur verknüpft, zu vernichten, mit Gewalt auf die Befreiung
loszusteuern und uns ausschließlich mit der Kombination von reiner
Farbe und unabhängiger Form zu begnügen, so würden wir Werke
schaffen, die wie eine geometrische Ornamentik aussehen, die, grob
98 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
gesagt, einer Krawatte, einem Teppich gleichen würden. Die Schön-
heit der Farbe und der Form ist (trotz der Behauptung der reinen
Ästheten oder auch der Naturalisten, die hauptsächlich auf „Schönheit"
zielen) kein genügendes Ziel in der Kunst. Wir sind eben infolge unseres
elementaren Zustandes in der Malerei sehr wenig fähig, von ganz eman-
zipierter Farben-, Formenkomposition schon heute ein inneres Erlebnis
zu erhalten. Die Nervenvibration wird freilich vorhanden sein (wie
etwa vor kunstgewerblichen Werken), sie bleibt aber hauptsächlich im
Bereiche der Nerven stecken, weil sie zu schwache Qemütsvibrationen,
Erschütterungen der Seele hervorrufen wird. Wenn wir aber bedenken,
daß die geistige Wendung ein direkt stürmisches Tempo angeschlagen
hat, daß auch die „festeste" Basis des menschlichen Geisteslebens, d. h.
die positive Wissenschaft, mitgerissen wird und vor der Tür der Auf-
lösung der Materie steht, so kann behauptet werden, daß nur noch
wenige „Stunden" uns von dieser reinen Komposition trennen.
Auch die Ornamentik ist freilich kein ganz lebloses Wesen. Sie hat
ihr inneres Leben, welches uns entweder nicht mehr verständlich ist
(alte Ornamentik), oder nur ein alogischer Wirrwarr ist, eine Welt,
wo sozusagen erwachsene Menschen und Embryos gleich behandelt
werden und gesellschaftlich gleiche Rollen spielen, wo Wesen mit
abgerissenen Körperteilen auf ein Brett mit selbständig lebenden Nasen,
Zehen und Nabeln gestellt werden. Es ist der Wirrwarr eines Ka-
leidoskopes 1 ), wo der materielle Zufall und nicht der Geist der Ur-
x ) Dieser Wirrwarr ist natürlich auch ein präzises Leben, aber einer anderen
Sphäre.
•a
e
VII. THEORIE 99
heber ist. Und trotz dieser Unverständlichkeit oder Unfähigkeit, über-
haupt verständlich zu werden, wirkt auf uns die Ornamentik doch,
wenn auch zufällig und planlos 1 ): ein orientalisches Ornament ist
auch innerlich ganz anders als ein schwedisches, negerisches, alt-
griechisches usw. Nicht ohne Grund ist es z. B. allgemein gebräuch-
lich, Musterstoffe als lustig, ernst, traurig, lebhaft usw. zu bezeichnen,
d. h. mit denselben Adjektiven, welche von den Musikern stets ge-
braucht werden (Allegro, Serioso, Grave, Vivace etc.), um den Vor-
trag des Stückes zu bestimmen. Es ist zum großen Teile möglich, daß
das Ornament auch einst aus der Natur entstand (auch die modernen
Kunstgewerbler suchen ihre Motive in Feldern und Wäldern). Aber
wenn wir auch annehmen würden, daß keine andere Quelle als äußere
Natur gebraucht war, so wurden doch im guten Ornament andererseits
die Naturformen und Farben nicht rein äußerlich behandelt, sondern
vielmehr als Symbole, die schließlich beinahe hieroglyphisch ange-
wendet wurden. Und gerade deswegen wurden sie allmählich unver-
ständlich, und wir können nicht mehr ihren inneren Wert entziffern.
Ein chinesischer Drache z. B., welcher in seiner ornamentalen Form
doch sehr viel präzis Körperliches beibehalten hat, wirkt auf uns so
wenig, daß wir ihn ruhig in Eß- und Schlafzimmern vertragen können
und nicht stärker als einen Tischläufer mit gestickten Gänseblümchen
empfinden.
l ) Die eben beschriebene Welt ist doch eine Welt mit dem ihr unbedingt
eigenen inneren Klang, welcher im Grunde, im Prinzip notwendig ist und
Möglichkeiten bietet.
100 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Es wird sich vielleicht zum Schlüsse unserer jetzt dämmernden
Periode wieder eine neue Ornamentik entwickeln, die aber kaum aus
geometrischen Formen bestehen wird. Heute aber, an der Stelle, an
der wir angelangt sind, würde ein Versuch, diese Ornamente mit Ge-
walt zu schaffen, dem Versuch gleichen, eine kaum angedeutete Knospe
durch Gewalt der Finger zur Blume öffnen zu wollen.
Wir Sind heutzutage noch fest an die äußere Natur gebunden und
müssen unsere Formen aus ihr schöpfen. Die ganze Frage ist nun
die: wie dürfen wir das machen? d. h. wie weit darf unsere Freiheit
gehen, diese Formen zu ändern und mit welchen Farben dürfen sie
verbunden werden?
Diese Freiheit darf so weit gehen, so weit das Gefühl des Künstlers
reichen kann. Von diesem Standpunkte aus ist zugleich zu sehen, wie
unendlich groß die Notwendigkeit der Pflege dieses Gefühls ist.
Einige Beispiele werden das zweite Glied der Frage ziemlich aus-
reichend beantworten.
Die stets erregende, isoliert betrachtete, warme rote Farbe wird
ihren inneren Wert wesentlich verändern, wenn sie nicht mehr isoliert
ist und als abstrakter Laut bleibt, sondern zum Element eines Wesens
verwendet wird, indem sie mit einer naturellen Form verbunden wird.
Dieses Summieren des Rot mit verschiedenen naturellen Formen wird
auch verschiedene innere Wirkungen verursachen, die aber durch die
ständige sonst isolierte Wirkung des Rot verwandt klingen werden.
Verbinden wir dieses Rot mit Himmel, Blume, Kleid, Gesicht, Pferd,
Baum. Ein roter Himmel bringt uns auf die Assoziation mit Sonnen-
untergang, Brand und dergleichen. Es ist also eine „natürliche" (dies-
VII. THEORIE 101
mal feierliche, drohende) Wirkung, die dabei entsteht. Nun hängt frei-
lich sehr viel davon ab, wie die anderen Gegenstände, die mit dem
roten Himmel kombiniert werden, behandelt werden. Wenn sie in eine
kausale Verbindung gestellt werden, und auch mit für sie möglichen
Farben verbunden werden, so klingt das Naturelle im Himmel noch
stärker. Wenn aber die anderen Gegenstände sehr von der Natur
entrückt sind, so können sie dadurch den „natürlichen" Eindruck
des Himmels abschwächen, eventuell sogar vernichten. Ziemlich ähn-
lich wird die Verbindung des Rot mit einem Gesicht ausfallen, wo das
Rot als Gemütserregung der gemalten Figur wirken kann, oder durch
eine spezielle Beleuchtung erklärt wird, wobei derartige Wirkungen
nur durch große Abstraktion der anderen Teile des Bildes zerstört
werden können.
Rot im Kleid ist dagegen ein ganz anderer Fall, da das Kleid von
jeder beliebigen Farbe sein kann. So ein Rot wird am liebsten eventuell
als „malerische" Notwendigkeit wirken können, da das Rot hier allein
ohne eine direkte Assoziation mit materiellen Zielen behandelt werden
kann. Aber es entsteht doch eine gegenseitige Wirkung von diesem
Rot im Kleid auf die mit diesem Rot bekleidete Figur und umgekehrt.
Wenn z. B. die ganze Note des Bildes eine traurige ist und diese Note
besonders in der in Rot gekleideten Figur konzentriert ist (durch die
Stellung der Figur in der ganzen Komposition, durch ihre eigene Be-
wegung, durch Gesichtszüge, Haltung des Kopfes, Farbe des Gesichtes
usw.), so wird dieses Rot im Kleid als Gemütsdissonanz ganz besonders
stark die Traurigkeit des Bildes und besonders dieser Hauptfigur be-
tonen. Unbedingt würde hier eine andere Farbe, die selbst traurig
102 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
wirkte, den Eindruck schwächen durch Verminderung des dramatischen
Elementes 1 ). Also wieder das schon erwähnte Prinzip des Gegensatzes.
Das dramatische Element entsteht hier nur durch Einschließen des
Rot in die gesamte traurige Komposition, da das Rot, wenn es ganz
isoliert ist (also auch auf die ruhige Spiegelfläche der Seele fällt), bei
gewöhnlichen Zuständen nicht traurig wirken kann 2 ).
Wieder anders wird es stehen, wenn dasselbe Rot an einem Baum
verwendet wird. Der Grundton des Rot bleibt, wie in allen erwähnten
Fällen. Dazu wird sich aber der seelische Wert des Herbstes anschließen
(da das Wort „Herbst" allein eine seelische Einheit ist, wie es auch
jeder reale, abstrakte, unkörperliche, körperliche Begriff ist). Die Farbe
verbindet sich vollständig mit dem Gegenstand und bildet ein isoliert
wirkendes Element ohne den dramatischen Beiklang, welchen ich bei
Anwendung des Rot am Kleide eben erwähnt habe.
Ein ganz anderer Fall endlich ist ein rotes Pferd. Schon der Klang
dieser Worte versetzt uns in eine andere Atmosphäre. Die naturelle
Unmöglichkeit eines roten Pferdes verlangt unbedingt ein ebenso un-
naturelles Milieu, in welches dieses Pferd gestellt wird. Andernfalls
kann die Gesamtwirkung entweder als Kuriosität wirken (also nur ober-
x ) Es muß hier wieder ausdrücklich betont werden, daß alle solche Fälle,
Beispiele etc. nur als schematisierte Werte anzusehen sind. Alles dies ist kon-
ventionell und kann durch die große Wirkung der Komposition und ebenso
leicht durch einen Strich geändert werden. Die Möglichkeiten ziehen sich in
unendliche Reihen.
2 ) Immer muß unterstrichen werden , daß die Ausdrücke , wie „traurig,
freudig" usw., sehr grober Natur sind und nur als Wegweiser zu den feinen,
unkörperlichen Gemütsvibrationen dienen können.
VII. THEORIE 103
flächliche und ganz unkünstlerische Wirkung), oder als ein ungeschickt
aufgefaßtes Märchen 1 ) (also als begründete Kuriosität mit unkünstleri-
scher Wirkung). Eine gewöhnliche, naturalistische Landschaft, model-
lierte, anatomisch gezeichnete Figuren würden mit diesem Pferd einen
solchen Mißklang bilden, welchem kein Gefühl folgen würde und was
in Eins zu verbinden es keine Möglichkeit geben würde. Wie dieses
„Eins" zu verstehen ist, und wie es sein kann, zeigt die Definierung
der heutigen Harmonie. Daraus ist zu schließen, daß es möglich ist,
das ganze Bild zu spalten, in Widersprüche zu tauchen, durch alle Art
äußere Flächen zu führen, auf alle Art äußeren Flächen zu bauen, wobei
aber die innere Fläche immer dieselbe bleibt. Die Elemente der
Konstruktion des Bildes sind eben jetzt nicht auf diesem Äußern, sondern
nur auf der inneren Notwendigkeit zu suchen.
Der Zuschauer ist auch zu sehr gewöhnt, in solchen Fällen einen
„Sinn", d. h. einen äußerlichen Zusammenhang der Teile des Bildes,
zu suchen. Wieder hat dieselbe materialistische Periode im ganzen
Leben und also auch in der Kunst einen Zuschauer ausgebildet, welcher
sich dem Bilde nicht einfach gegenüberstellen kann (besonders ein
„Kunstkenner") und im Bilde alles mögliche sucht (Naturnachahmung,
Natur durch das Temperament des Künstlers — also dieses Tempera-
ment, direkte Stimmung, „Malerei", Anatomie, Perspektive, äußerliche
Stimmung usw. usw.), nur sucht er nicht, das innere Leben des Bildes
selbst zu fühlen, das Bild auf sich direkt wirken zu lassen. Durch die
x ) Wenn das Märchen nicht im ganzen „übersetzt" ist, so hat es zur
Folge ein Resultat, ähnlich dem der kinematographischen Märchenbilder.
104 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
äußeren Mittel geblendet, sucht sein geistiges Auge nicht, was durch
diese Mittel lebt. Wenn wir ein interessantes Gespräch mit einem
Menschen führen, so suchen wir uns in seine Seele zu vertiefen, suchen
die innere Gestalt, seine Gedanken und Gefühle und denken nicht
daran, daß er sich Worte zu Hilfe nimmt, die aus Buchstaben bestehen,
daß die Buchstaben nichts wie zweckmäßige Laute sind, die zur Ent-
stehung das Einziehen der Luft in die Lunge brauchen (anatomischer
Teil), durch Ausstoßen der Luft aus der Lunge und spezielle Stellung
der Zunge, Lippen usw. eine Luftvibration verursachen (physikalischer
Teil), die weiter durch das Trommelfell usw. zu unserem Bewußtsein
gelangen (psychologischer Teil), die eine Nervenwirkung erzielen (phy-
siologischer Teil) usw. ins Unendliche. Wir wissen, daß alle diese Teile
bei unserer Unterhaltung sehr nebensächlich sind, rein zufällig, als mo-
mentan notwendige äußere Mittel gebraucht werden müssen und daß
das Wesentliche im Gespräch die Mitteilung der Ideen und
Gefühle ist. Ebenso sollte man sich zum Kunstwerk stellen und sich
die direkte abstrakte Wirkung des Werkes dadurch verschaffen. Dann
wird mit der Zeit die Möglichkeit sich entwickeln, durch reine künst-
lerische Mittel zu sprechen, dann wird es überflüssig werden, Formen
aus der äußerlichen Welt zum innerlichen Sprechen zu leihen, die uns
heute die Gelegenheit geben, Form und Farbe verwendend, dieselben
im innern Werte zu vermindern oder zu steigern. Der Gegensatz (wie
das rote Gewand in der traurigen Komposition) kann unbegrenzt ge-
waltig sein, muß aber auf einer und derselben moralischen Fläche
bleiben.
Wenn aber diese Fläche auch vorhanden ist, so wird damit die
VII. THEORIE 105
Farbenfrage in unserm Beispiel nicht ganz gelöst. Die „unnatürlichen"
Gegenstände und die dazu stimmenden Farben können leicht einen lite-
rarischen Klang bekommen, indem die Komposition als ein Märchen
wirkt. Dies letzte Resultat versetzt den Zuschauer in eine Atmosphäre,
welche er, da sie märchenhaft ist, ruhig gelten läßt, und wo er dann
1. die Fabel sucht, 2. unempfindlich oder wenig empfindlich gegen die
reine Farbenwirkung bleibt. Jedenfalls ist in diesem Falle die direkte,
reine innere Wirkung der Farbe nicht mehr möglich: das Äußerliche
hat leicht über das Innerliche Übergewicht. Und der Mensch im all-
gemeinen geht nicht gerne in große Tiefen, er bleibt gerne an der Ober-
fläche, da dieselbe weniger Anstrengung verlangt. Es gibt zwar „nichts
tieferes als Oberflächlichkeit", aber diese Tiefe ist die des Sumpfes.
Gibt es andererseits eine Kunst, die leichter genommen wird als die
„plastische"? Jedenfalls sobald sich der Zuschauer im Märchenlande
glaubt, ist er sofort gegen starke seelische Vibrationen immun. Und
so wird das Ziel des Werkes zu Nichts. Deswegen muß eine Form
gefunden werden, die erstens die Märchenwirkung 1 ) ausschließt und
zweitens die reine Farbenwirkung in keiner Weise hemmt. Zu diesem
Zweck müssen Form, Bewegung, Farbe, die aus der Natur (realen
oder nicht realen) geliehenen Gegenstände keine äußerliche und äußer-
lich verbundene erzählerische Wirkung hervorrufen. Und je äußerlich
*) Dieser Kampf mit der Märchenluft ist dem Kampfe mit der Natur gleich.
Wie leicht und oft ganz gegen den Willen des Farbenkomponisten „die Natur"
sich von selbst in seine Werke eindrängt! Es ist leichter, die Natur zu malen,
als mit ihr zu kämpfen!
106 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
unmotivierter z. B. die Bewegung ist, desto reiner, tiefer und innerlicher
wirkt sie.
Eine sehr einfache Bewegung, von welcher das Ziel unbekannt ist,
wirkt schon an und für sich als eine bedeutende, geheimnisvolle, feier-
liche. Und das, solange man das äußerliche, praktische Ziel der Be-
wegung nicht kennt. Dann wirkt sie als reiner Klang. Eine einfache
gemeinsame Arbeit (z. B. die Vorbereitung zur Hebung eines großen
Gewichtes) wirkt, wenn das Ziel unbekannt ist, so bedeutungsvoll,
so geheimnisvoll, so dramatisch und packend, daß man unwillkürlich
stehen bleibt, wie vor einer Vision, wie vor einem Leben auf anderer
Fläche, bis plötzlich der Zauber fort ist, die praktische Erklärung wie
ein Schlag kommt und das rätselhafte Vorgehen und den Grund des-
selben bloßlegt. In der einfachen Bewegung, die äußerlich nicht mo-
tiviert ist, liegt ein unermeßlicher Schatz voller Möglichkeiten. Solche
Fälle kommen besonders dann leicht vor, wenn man in abstrakte Ge-
danken vertieft hinwandert. Diese Gedanken reißen den Menschen
aus dem alltäglichen, praktischen, zweckmäßigen Treiben. Deswegen
wird das Beobachten solcher einfacher Bewegungen außerhalb des
praktischen Kreises möglich. Sobald man sich aber erinnert, daß in
unseren Straßen nichts Rätselhaftes vorkommen darf, so fällt im selben
Augenblicke das Interesse für die Bewegung aus: der praktische Sinn
der Bewegung löscht den abstrakten Sinn derselben aus. Auf diesem
Prinzip sollte und wird der „neue Tanz" gebaut werden, der das einzige
Mittel ist, die ganze Bedeutung, den ganzen inneren Sinn der Be-
Kandinsky. Improvisation Nr. 18
VII. THEORIE 107
wegung in Zeit und Raum auszunützen. Der Ursprung des Tanzes
ist scheinbar rein sexueller Natur. Jedenfalls sehen wir noch heute dieses
ursprüngliche Element im Volkstanze entblößt liegen. Die später ent-
standene Notwendigkeit, den Tanz als Mittel zum Gottesdienst zu ge-
brauchen (Mittel zur Inspiration), bleibt sozusagen auf der Fläche der
angewandten Ausnützung der Bewegung. Allmählich bekamen diese
beiden praktischen Verwendungen eine künstlerische Färbung, die sich
durch Jahrhunderte entwickelte und mit der Sprache der Ballett-
bewegungen endete. Diese Sprache ist heute nur wenigen verständlich
und verliert immer an Klarheit. Außerdem ist sie für die kommende
Zeit viel zu naiver Natur: sie diente eben nur dem Ausdrucke der
materiellen Gefühle (Liebe, Angst usw.) und muß durch eine andere
ersetzt werden, die imstande ist, feinere seelische Vibrationen zu ver-
ursachen. Aus diesem Grunde haben die Tanzreformatoren unserer
Zeit ihren Blick zu vergangenen Formen gewendet, wo sie auch noch
heute Hilfe suchen. So entstand das Band, welches Isadora Duncan
zwischen dem griechischen Tanz und dem kommenden anknüpfte.
Dieses ist also aus demselben Grunde geschehen, aus welchem die
Maler bei den Primitiven Hilfe suchten. Natürlich ist es auch im Tanz
(ebenso wie in der Malerei) nur ein Übergangsstadium. Wir stehen
vor der Notwendigkeit der Bildung des neuen Tanzes, des Tanzes der
Zukunft. Dasselbe Gesetz der unbedingten Ausnützung des inneren
Sinnes der Bewegung, als des Haupteiementes des Tanzes, wird auch
hier wirken und zum Ziele bringen. Auch hier muß und wird die
konventionelle „Schönheit" der Bewegung über Bord geworfen und der
„natürliche" Vorgang (Erzählung = literarisches Element) als unnötig
Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst 8
108 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
und schließlich störend erklärt. Ebenso wie in der Musik oder in der
Malerei kein „häßlicher Klang" und keine äußere „Dissonanz" existiert,
d. h. ebenso wie in diesen beiden Künsten jeder Klang und Zusammen-
klang schön (= zweckmäßig) ist, wenn er aus der inneren Notwendig-
keit stammt, so wird bald auch im Tanze der innere Wert jeder Be-
wegung gefühlt und es wird die innere Schönheit die äußere ersetzen.
Den „unschönen" Bewegungen, die jetzt plötzlich schön werden, ent-
strömen sofort eine ungeahnte Gewalt und lebendige Kraft. Von diesem
Augenblick an beginnt der Tanz der Zukunft.
Dieser Tanz der Zukunft, welcher also auf die Höhe der heutigen
Musik und Malerei gestellt wird, wird in demselben Augenblick die
Fähigkeit bekommen, als das dritte Element, die Bühnenkompo-
sition zu verwirklichen, welche das erste Werk der Monumentalen
Kunst sein wird.
Die Bühnenkomposition wird zunächst aus diesen drei Elementen
bestehen :
1. musikalische Bewegung,
2. malerische Bewegung,
3. tanzkünstlerische Bewegung.
Nach dem oben von der reinmalerischen Komposition Gesagten wird
jeder verstehen, was ich unter der dreifachen Wirkung der inneren
Bewegung (= Bühnenkomposition) verstehe.
VII. THEORIE 109
Ebenso wie die zwei Hauptelemente der Malerei (zeichnerische
und malerische Form) jedes ein selbständiges Leben führen, durch
eigene und nur ihnen allein eigene Mittel sprechen, ebenso wie aus
der Kombinierung dieser Elemente und ihrer sämtlichen Eigenschaften
und Möglichkeiten die Komposition in der Malerei entsteht, geradeso
wird die Komposition auf der Bühne unter Mit- (= Gegen-) Wirkung
der obengenannten drei Bewegungen möglich werden.
Der obenerwähnte Versuch Skrjabins (die Wirkung des musika-
lischen Tones durch die Wirkung des entsprechenden farbigen Tones
zu erhöhen) ist natürlich nur ein sehr elementarer Versuch, welcher
nur eine Möglichkeit ist. Außer dem Mitklange zweier oder schließlich
der drei Elemente der Bühnenkomposition kann noch folgendes ver-
wendet werden : der Oegenklang, abwechselnde Wirkung der einzelnen,
Verwendung der vollkommenen Selbständigkeit (natürlich äußeren) jedes
der einzelnen Elemente usw. Gerade dieses letzte Mittel hat Arnold
Schönberg in seinen Quartetten schon angewendet. Und hier sieht man,
wie stark der innere Zusammenklang an Kraft und Bedeutung ge-
winnt, wenn der äußere Zusammenklang in diesem Sinne gebraucht
wird. Man denkt sich nun die glückerfüllende neue Welt der drei
mächtigen Elemente, die einem schöpferischen Ziele dienen werden.
Ich bin hier gezwungen, auf das weitere Entwickeln dieses bedeutungs-
vollen Themas zu verzichten. Der Leser soll nur das für die Malerei
gegebene Prinzip auch in diesem Falle korrespondierend verwenden
und auch vor seinem geistigen Auge wird sich von selbst der glück-
volle Traum der Zukunftsbühne stellen. Auf den verwickelten Wegen
dieses neuen Reiches, welche durch schwarze Urwälder, über uner-
8*
110 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
meßliche Klüfte auf eisige Höhen, an schwindelnden Abgründen als
ein endloses Netz vor dem Pionier liegen, wird ihn mit unfehlbarer
Hand immer derselbe Führer lenken — das Prinzip der inneren
Notwendigkeit.
Aus den oben geprüften Beispielen der Anwendung einer Farbe,
aus der Notwendigkeit und Bedeutung der Anwendung „natureller"
Formen in Verbindung mit Farbe als Klang geht hervor 1. wo der
Weg zur Malerei liegt und 2. wie im allgemeinen Prinzip dieser
Weg zu betreten ist. Dieser Weg liegt zwischen zwei Gebieten (die
heute zwei Gefahren sind) : rechts liegt das vollständig abstrakte,
ganz emanzipierte Anwenden der Farbe in „geometrischer" Form (Or-
namentik), links das mehr reale, zu stark von äußeren Formen ge-
lähmte Gebrauchen der Farbe in „körperlicher" Form (Phantastik).
Und zur selben Zeit schon (und, womöglich nur heute) ist die Mög-
lichkeit vorhanden, bis zur rechts liegenden Grenze zu schreiten und
... sie zu überschreiten, und ebenso bis zur linksliegenden und dar-
über hinaus. Hinter diesen Grenzen (hier verlasse ich meinen Weg
des Schematisierens) liegt rechts : die reine Abstraktion (d. h.
größere Abstraktion als die der geometrischen Form) und links reine
Realistik (d. h. höhere Phantastik — Phantastik in härtester Materie).
Und zwischen denselben — grenzenlose Freiheit, Tiefe, Breite, Reich-
tum der Möglichkeiten und hinter ihnen liegende Gebiete der reinen:
Abstraktion und Realistik — alles ist heute, durch den heutigen
VII. THEORIE 111
Moment, dem Künstler zu Diensten gestellt. Heute ist der Tag einer
Freiheit, die nur zur Zeit einer keimenden großen Epoche denkbar ist 1 ).
Und im selben Augenblick ist diese selbe Freiheit eine der größten
Unfreiheiten, da alle diese Möglichkeiten zwischen, in und hinter den
Grenzen aus einer und derselben Wurzel wachsen : aus dem kate-
gorischen Rufen der Inneren Notwendigkeit.
Daß die Kunst über der Natur steht, ist keine irgendwie neue Ent-
deckung 2 ). Neue Prinzipien fallen auch nie vom Himmel, stehen hin-
gegen im kausalen Zusammenhang mit der Vergangenheit und der
Zukunft. Nur ist uns wichtig, in welcher Lage heute dieses Prinzip
liegt und wohin wir mit Hilfe desselben morgen gelangen können.
Und dieses Prinzip, das muß wieder und wieder betont werden, muß
x ) Ober diese Frage siehe meinen Artikel „Über die Formfrage" im Blauen
Reiter (Verlag R. Piper & Co., 1912). Von dem Werk Henri Rousseaus aus-
gehend, beweise ich hier, daß die kommende Realistik in unserer Periode
nicht nur gleichwertig mit der Abstraktion ist, sondern ihr identisch.
2 ) Besonders die Literatur drückte längst dies Prinzip aus. Z. B. sagt Goethe:
„Der Künstler steht mit freiem Geiste über der Natur und kann sie seinen
höheren Zwecken gemäß traktieren ... er ist ihr Herr und Sklave zugleich.
Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden
zu werden. (NB!) Ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen
höheren Intentionen unterwirft und ihnen dienstbar macht. Der Künstler will
zur Welt durch ein Ganzes sprechen: Dieses Ganze findet er aber nicht in der
Natur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn man will,
des Anwehens eines befruchtenden göttlichen Odems." (Karl Heinemann, Goethe,
1899, S. 684.) Zu unserer Zeit O. Wilde: „Kunst fängt an da, wo die Natur
aufhört" (De Profundis). Auch in der Malerei finden wir oft solche Gedanken.
Delacroix sagte z. B., die Natur wäre für den Künstler nur ein Wörterbuch.
Und: „den Realismus sollte man den Antipoden der Kunst definieren" („Mein
Tagebuch", S. 246. Bruno Cassirer Verlag. Berlin 1903).
112 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
nie mit Gewalt angewendet werden. Wenn aber der Künstler seine
Seele nach dieser Stimmgabel stimmt, so werden schon von selbst
seine Werke in diesem Ton klingen. Und speziell die heute fort-
schreitende „Emanzipation" wächst auf dem Boden der inneren Not-
wendigkeit, die, wie schon bezeichnet wurde, die geistige Kraft des
Objektiven in der Kunst ist. Das Objektive der Kunst sucht
sich heute mit einer besonders starken Spannung zu offenbaren. Es
werden also die zeitlichen Formen gelockert, damit das Objektive
klarer zum Ausdruck kommen kann. Die naturellen Formen stellen
Grenzen, die in vielen Fällen diesem Ausdruck im Wege liegen. So
werden sie zur Seite geschoben und die freie Stelle wird für das
Objektive der Form gebraucht — Konstruktion zum Zweck der
Komposition. Dadurch erklärt sich der schon heute klar daliegende
Drang, die konstruktiven Formen der Epoche zu entdecken. Als eine
der Übergangsformen zeigt z. B. der Kubismus, wie oft die naturellen
Formen den konstruktiven Zwecken gewaltsam unterordnet werden
müssen und welche unnötigen Hindernisse diese Formen in solchen
Fällen bilden.
Jedenfalls wird heute im allgemeinen eine entblößte Konstruktion
angewendet, welche scheinbar die einzige Möglichkeit ist, dem Objek-
tiven in der Form Ausdruck zu verleihen. Wenn wir aber daran
denken, wie die heutige Harmonie in diesem Buch definiert wurde,
so können wir auch auf dem Gebiete der Konstruktion den Geist der
Zeit erkennen : nicht eine klar daliegende, oft in die Augen springende
(„geometrische") Konstruktion, die an Möglichkeiten reichste bzw. die
ausdrucksvollste zu sein, sondern die versteckte, die aus dem Bilde
VII. THEORIE 113
unbemerkt herauskommt und also weniger für das Auge als für die
Seele bestimmt ist.
Diese versteckte Konstruktion kann aus scheinbar zufällig
auf die Leinwand geworfenen Formen bestehen, die wieder scheinbar
in keinem Zusammenhang zueinander stehen : die äußere Abwesen-
heit dieses Zusammenhanges ist hier seine innere Anwesenheit. Das
äußerlich Gelockerte ist hier das innerlich Zusammengeschmolzene.
Und dieses bleibt inbezug auf beide Elemente gleich: in der zeich-
' nerischen und in der malerischen Form.
Und gerade hier liegt die Zukunft der Harmonielehre der Malerei.
Die „irgendwie" zueinander stehenden Formen haben doch im letzten
Grunde eine große und präzise Beziehung zueinander. Und schließ-
lich läßt sich auch diese Beziehung in einer mathematischen Form
ausdrücken, nur wird hier vielleicht mehr mit unregelmäßigen als mit
regelmäßigen Zahlen operiert.
Als letzter abstrakter Ausdruck bleibt in jeder
Kunst die Zahl.
Es ist selbstverständlich, daß dieses objektive Element andererseits
die Vernunft, das Bewußte (objektive Kenntnisse — malerischer General-
baß) als eine notwendige m itwi rken de Kraft unbedingt verlangt.
Und dieses Objektive wird dem heutigen Werk auch in der Zukunft
die Möglichkeit geben, statt „ich war" — „ich bin" zu sagen.
VIII.
KUNSTWERK UND KÜNSTLER
Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht das
wahre Kunstwerk „aus dem Künstler". Von ihm losgelöst bekommt es
ein selbständiges Leben, wird zur Persönlichkeit, zu einem selbständigen,
geistig atmenden Subjekt, welches auch ein materiell reales Leben
führt, welches ein Wesen ist. Es ist also nicht eine gleichgültig
und zufällig entstandene Erscheinung, die auch gleichgültig in dem
geistigen Leben weilt, sondern, wie jedes Wesen besitzt es weiter-
schaffende, aktive Kräfte. Es lebt, wirkt und ist an der Schöpfung
der besprochenen geistigen Atmosphäre tätig. Aus diesem innerlichen
Standpunkte ist auch ausschließlich die Frage zu beantworten, ob das
VIII. KUNSTWERK UND KÜNSTLER 1_J5
Werk gut oder schlecht ist. Wenn es „schlecht" in der Form ist oder
zu schwach, so ist diese Form schlecht oder zu schwach, um in jeder Art
rein klingende Seelenvibrationen hervorzurufen 1 ). Ebenso ist in Wirk-
lichkeit nicht das Bild „gut gemalt", welches richtig in Werten (die
unvermeidlichen Valeurs der Franzosen) ist oder irgendwie beinahe
wissenschaftlich in Kalt und Warm geteilt ist, sondern das Bild ist
gut gemalt, welches innerlich voll lebt. Die „gute Zeichnung"
ist auch nur die, an welcher nichts geändert werden
kann, ohne daß dieses innerliche Leben zerstört wird,
ohne jede Rücksicht darauf, ob diese Zeichnung der Anatomie, Bo-
tanik oder sonst einer Wissenschaft widerspricht. Hier besteht die
Frage nicht darin, ob eine äußerliche (also auch nur immer zufällige)
Form verletzt wird, sondern nur darin, ob der Künstler diese Form,
wie sie äußerlich existiert, braucht oder nicht. Ebenso müssen
Farben angewendet werden, nicht, weil sie in der Natur
in diesem Klang existieren oder nicht, sondern weil sie in diesem
Klang im Bilde notwendig sind oder nicht. Kurz gesagt, der
Künstler ist nicht nur berechtigt, sondern verpflich-
tet, mit den Formen so umzugehen, wie es für seine
x ) Die z. B. sogenannten „unmoralischen" Werke sind entweder überhaupt
unfähig, eine Seelenvibration hervorzurufen (dann sind sie nach unserer Defi-
nierung unkünstlerisch), oder sie verursachen auch eine Seelenvibration, indem
sie eine in irgendeiner Beziehung richtige Form besitzen. Dann sind sie „gut".
Wenn sie aber, von dieser seelischen Vibration abgesehen, auch rein körperliche
Vibration niederer Gattung, (wie es zu unserer Zeit genannt wird) erzeugen, so
dürfte man daraus nicht den Schluß ziehen, daß das Werk, aber nicht die auf
dies Werk durch niedrige Vibrationen reagierende Persönlichkeit zu verachten ist.
116 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Zwecke notwendig ist. Und weder Anatomie oder dergleichen,
noch das prinzipielle Umwerfen dieser Wissenschaften ist not-
wendig, sondern volle unbeschränkte Freiheit des Künstlers
in der Wahl seiner Mittel 1 ). Diese Notwendigkeit ist das Recht auf
unbeschränkte Freiheit, die sofort zum Verbrechen wird, wenn sie
nicht auf derselben beruht. Künstlerisch ist das Recht darauf die be-
sprochene innere moralische Fläche. Im ganzen Leben (also auch in
der Kunst) — reines Ziel.
Und speziell: ein zweckloses Befolgen der wissenschaftlichen Tat-
sachen ist nie so schädlich, wie ein zweckloses Umwerfen derselben.
Im ersten Fall entsteht eine Naturnachahmung (materielle), welche
für verschiedene spezielle Zwecke verwendet werden kann 8 ). Im
zweiten — ein künstlerischer Betrug, welcher als Sünde eine lange
Kette von üblen Folgen bildet. Der erste Fall läßt die moralische At-
mosphäre leer. Er versteinert sie. Der zweite vergiftet und verpestet sie.
Die Malerei ist eine Kunst und die Kunst im ganzen ist nicht
ein zweckloses Schaffen der Dinge, die im Leeren zerfließen,
sondern eine Macht, die zweckvoll ist, und muß der Entwicklung
1 ) Diese unbeschränkte Freiheit muß auf dem Grunde der inneren Notwen-
digkeit (die man Ehrlichkeit nennt) basiert sein. Und dieses Prinzip ist nicht
nur das der Kunst, sondern das des Lebens. Dieses Prinzip ist das größte Schwert
des wirklichen Obermenschen gegen das Philistertum.
2 ) Es ist klar, daß diese Naturnachahmung, wenn sie von der Hand eines
Künstlers stammt , welcher seelisch lebt , nie eine ganz tote Wiedergabe der
Natur bleibt. Auch in dieser Form kann die Seele sprechen und gehört werden.
Als Gegenbeispiel können z. B. Landschaften Canalettos dienen zu den traurig
berühmten Köpfen von Denner (Alte Pinakothek in München).
VIII. KUNSTWERK UND KÜNSTLER 117
und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen — der Bewegung
des Dreiecks. Sie ist die Sprache, die in nur ihr eigener Form von
Dingen zur Seele redet, die für die Seele das tägliche Brot sind,
welches sie nur in dieser Form bekommen kann.
Wenn die Kunst sich dieser Aufgabe entzieht, so muß die Lücke
offen bleiben, da es keine andere Macht gibt, die die Kunst ersetzen
kann 1 ). Und immer zu der Zeit, wo die menschliche Seele stärkeres
Leben führt, wird auch die Kunst lebendiger, da Seele und Kunst in
einer Verbindung von wechselseitiger Wirkung und Vervollkommnung
stehen. Und in den Perioden, in welchen die Seele durch materialistische
Anschauungen, Unglauben und daraus fließende rein praktische Be-
strebungen betäubt und vernachlässigt wird, entsteht die Ansicht, daß
die „reine" Kunst nicht für spezielle Zwecke dem Menschen gegeben
ist, sondern zwecklos, daß Kunst nur für Kunst existiert (l'art pour
l'art) 2 ). Hier wird das Band zwischen Kunst und Seele halb an-
ästhesiert. Das rächt sich aber bald, da der Künstler und der Zu-
schauer (welche mit Hilfe der Seelensprache miteinander reden) sich
nicht mehr verstehen, und der letztere wendet dem ersteren den Rücken
oder sieht ihn an wie einen Gaukler, dessen äußere Geschicklichkeit
und Erfindungskraft bewundert werden.
*) Diese Lücke kann auch leicht durch Gift und Pest ausgefüllt werden.
2 ) Diese Ansicht ist eins der wenigen idealen Agentien zu solchen Zeiten.
Es ist ein unbewußter Protest gegen den Materialismus, welcher alles praktisch
zweckmäßig haben will. Und das beweist wieder, wie stark und unverwüstlich
die Kunst ist und die Kraft der menschlichen Seele, die lebendig ist und ewig,
die betäubt, aber nicht getötet werden kann.
118 OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
In erster Linie soll dann der Künstler die Lage zu ändern ver-
suchen, dadurch, daß er seine Pflicht der Kunst und also auch sich
gegenüber anerkennt und sich nicht als Herr der Lage betrachtet,
sondern als Diener höherer Zwecke, dessen Pflichten präzis, groß und
heilig sind. Er muß sich erziehen und vertiefen in die eigene Seele,
diese eigene Seele vorerst pflegen und entwickeln, damit sein äußeres
Talent etwas zu bekleiden hat und nicht, wie der verlorene Handschuh
von einer unbekannten Hand, ein leerer zweckloser Schein einer
Hand ist.
Der Künstler muß etwas zu sagen haben, da nicht
die Beherrschung der Form seine Aufgabe ist, son-
dern das Anpassen dieser Form dem Inhalt 1 ).
*) Es ist doch sicher klar, daß hier die Rede von der Erziehung der Seele
ist und nicht von einer Notwendigkeit, gewaltsam in jedes Werk einen bewußten
Inhalt hinein zu pressen oder diesen erdachten Inhalt gewaltsam künstlerisch
zu bekleiden! In diesen Fällen würde nichts als leblose Kopfarbeit entstehen.
Es wurde auch schon oben gesagt: Geheimnisvoll entsteht das wahre Kunstwerk.
Nein, wenn die Künstlerseele lebt, so braucht man sie durch Kopfgedanken
und Theorien nicht zu unterstützen. Sie findet selbst etwas zu sagen, was dem
Künstler selbst im Augenblick ganz unklar bleiben kann. Die innere Stimme
der Seele sagt ihm auch, welche Form er braucht und von wo sie zu holen
ist (äußert oder innere „Natur"). Jeder Künstler, welcher nach dem sogenannten
Gefühl arbeitet, weiß, wie plötzlich und für ihn unerwartet die von ihm erson-
nene Form ihm widrig erscheint, wie „wie von selbst" sich eine andere, richtige
an die Stelle der ersteren, verworfenen stellt. Böcklin sagte, daß ein richtiges
Kunstwerk wie eine große Improvisation sein muß, d. h. Überlegung, Aufbauen,
vorherige Komposition sollen nichts als Vorstufen sein, auf welchem das Ziel
erreicht wird, welches dem Künstler selbst unerwartet erscheinen kann. So soll
auch die Verwendung des kommenden Kontrapunktes verstanden werden.
VIII. KUNSTWERK UND KÜNSTLER 1_19
Der Künstler ist kein Sonntagskind des Lebens: Er hat kein Recht,
pflichtlos zu leben, er hat eine schwere Arbeit zu verrichten, die oft
zu seinem Kreuz wird. Er muß wissen, daß jede seiner Taten, Gefühle,
Gedanken das feine unbetastbare, aber feste Material bilden, woraus
seine Werke entstehen, und daß er deswegen im Leben nicht frei ist,
sondern nur in der Kunst.
Und daraus geht von selbst hervor, daß der Künstler dreifach ver-
antwortlich ist, im Vergleich zum Nichtkünstler: 1. muß er sein ihm
gegebenes Talent wieder erstatten, 2. bilden seine Taten, Gedanken,
Gefühle, wie die jedes Menschen, die geistige Atmosphäre, so daß sie
die geistige Luft verklären oder verpesten und 3. sind diese Taten,
Gedanken, Gefühle das Material zu seinen Schöpfungen, welche
noch einmal wieder an der geistigen Atmosphäre tätig sind. Er ist nicht
nur „König", wie ihn Sar Peladan nennt, in dem Sinne, daß er die
große Macht hat, sondern auch in dem Sinne, daß auch seine Pflicht
groß ist.
Wenn der Künstler Priester des „Schönen" ist, so ist auch dieses
Schöne durch dasselbe Prinzip des inneren Wertes zu suchen,
welchen wir überall gefunden haben. Dieses „Schöne" ist nur durch
den Maßstab der inneren Größe und Notwendigkeit zu messen,
welche uns bis jetzt überall und durchweg richtige Dienste geleistet hat.
Das ist schön, was einer inneren seelischen Not-
wendigkeit entspringt. Das ist schön, was innerlich
schön ist 1 ).
J ) Unter diesem Schönen wird selbstredend nicht die äußere oder sogar
innere im allgemeinen Verkehr angenommene Moral verstanden, sondern alles
120 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
Einer der ersten Vorkämpfer, einer der ersten seelischen Kompo-
nisten in der Kunst von heute, der die Kunst von morgen entspringen
wird, Maeterlink, sagt:
„Es gibt nichts auf Erden, das nach Schönheit begieriger wäre
und sich leichter verschönt, als eine Seele. . . Darum widerstehen auch
sehr wenige Seelen auf Erden der Herrschaft einer Seele, die sich der
Schönheit hingibt" 1 ).
Und diese Eigenschaft der Seele ist das Öl, durch das die langsame,
kaum sichtbare, zeitweise äußerlich stockende, aber fortwährende, un-
unterbrechbare Bewegung des geistigen Dreiecks nach vor- und auf-
wärts möglich ist.
das, was auch in der ganz untastbaren Form die Seele verfeinert und bereichert.
Deshalb ist, z. B., in der Malerei jede Farbe innerlich schön, da jede Farbe
eine Seelenvibration verursacht und jede Vibration bereichert die
Seele. Und deshalb endlich kann alles innerlich schön sein, was äußerlich
„häßlich" ist. So ist es in der Kunst, so ist es im Leben. Und deshalb ist
nichts „häßlich" im inneren Resultat, d. h. in der Wirkung auf die Seele der anderen.
x ) Von der inneren Schönheit. (K. Robert Langewiesche Verlag. Düssel-
dorf und Leipzig. S. 187.)
SCHLUSSWORT
Die beigefügten sechs Reproduktionen sind Beispiele der konstruk-
tiven Bestrebungen in der Malerei.
Die Formen dieser Bestrebungen zerfallen in zwei Hauptgruppen:
1. die einfache Komposition, die einer klar zum Vorschein kommen-
den einfachen Form unterordnet ist. Diese Komposition nenne ich
die melodische;
2. die komplizierte Komposition, die aus mehreren Formen besteht,
die weiter einer klaren oder verschleierten Hauptform unterordnet sind.
Diese Hauptform kann äußerlich sehr schwer zu finden sein, wodurch
die innere Basis einen besonders starken Klang bekommt. Diese kom-
plizierte Komposition nenne ich die symphonische.
Zwischen diesen zwei Hauptgruppen liegen verschiedene Über-
gangsformen, in welchen das melodische Prinzip unbedingt vorhan-
den ist.
Der ganze Entwicklungsvorgang ist auffallend dem in der Musik
ähnlich. Abweichungen in diesen beiden Vorgängen sind Resultate
122 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
eines anderen mitspielenden Gesetzes, welches aber schließlich immer
bis jetzt dem ersten Entwicklungsgesetz unterlag. So sind diese Ab-
weichungen hier nicht maßgebend.
Wenn man in der melodischen Komposition das Gegen-
ständliche entfernt und dadurch die im Grunde liegende malerische
Form entblößt, so findet man primitive geometrische Formen oder die
Aufstellung einfacher Linien, die einer allgemeinen Bewegung dienen.
Diese allgemeine Bewegung wiederholt sich in einzelnen Teilen und
wird manchmal durch einzelne Linien oder Formen variiert. Diese ein-
zelnen Linien oder Formen dienen in diesem letzten Falle verschie-
denen Zwecken. Sie bilden z. B. eine Art Abschluß, welchem ich den
musikalischen Namen „fermata" gebe 1 ). Alle diese konstruktiven
Formen haben einen einfachen inneren Klang, welchen auch jede Me-
lodie hat. Deswegen nenne ich sie die melodischen. Durch Cezanne
und später Hodler zum neuen Leben geweckt, bekamen diese melo-
dischen Kompositionen zu unserer Zeit die Bezeichnung der rhythmi-
schen. Das war der Kern der Wiedergeburt der kompositioneilen
Ziele. Daß die Beschränkung des Begriffes „rhythmisch" auf ausschließ-
lich diese Fälle zu eng ist, ist auf den ersten Blick klar. Ebenso wie
in der Musik jede Konstruktion einen eigenen Rhythmus besitzt,
ebenso wie in der ganz „zufälligen" Verteilung der Dinge in der Natur
auch jedesmal ein Rhythmus vorliegt, so auch in der Malerei. Nur
ist in der Natur dieser Rhythmus uns manchmal nicht klar, da uns seine
x ) Siehe z. B. das Mosaik in Ravenna, welches in der Hauptgruppe ein
Dreieck bildet. Zu diesem Dreieck neigen sich immer weniger bemerklich die
übrigen Figuren. Der ausgestreckte Arm und der Türvorhang bilden die fermata.
SCHLUSSWORT 123
Ziele (in manchen und gerade wichtigen Fällen) nicht klar sind. Diese
unklare Zusammenstellung wird deshalb arhythmisch genannt. Diese
Teilung in das Rhythmische und Arhythmische ist also vollkommen
relativ und konventionell. (Geradeso wie die Teilung der Konsonanz
von der Dissonanz, die im Grunde nicht existiert.) 1 ).
Kompliziertere „rhythmische" Komposition mit einer starken An-
deutung des symphonischen Prinzips sind viele Bilder, Holzschnitte,
Miniaturen usw. der vergangenen Kunstepochen. Man erinnere sich
nur der alten deutschen Meister, der Perser, Japaner, der russischen
Ikonen und besonders der Volksblätter usw. usw. 2 ).
In beinahe allen diesen Werken ist die symphonische Komposition
noch sehr stark an die melodische gebunden. D. h. wenn man das
Gegenständliche entfernt und dadurch das Kompositionelle entschleiert,
so kommt eine Komposition zum Vorschein, die aus dem Gefühle der
Ruhe, der ruhigen Wiederholung, der ziemlich gleichmäßigen Vertei-
lung gebaut ist 3 ). Unwillkürlich kommen alte Chorkompositionen,
Mozart und schließlich Beethoven in Erinnerung. Das alles sind Werke,
die mehr oder weniger mit der erhabenen, ruhe- und würdevollen
Architektur eines gotischen Domes verwandt sind: Gleichgewicht und
J ) Als Beispiel dieser klar daliegenden melodischen Konstruktion mit offenem
Rhythmus ist in diesem Buch das Bild von Cezanne „Die Badenden" gebracht.
2 ) Melodische Kompositionen mit symphonischen Anklängen sind viele Bilder
Hodlers.
') Hier spielt eine große Rolle die Tradition. Und ganz besonders in der
volkstümlich gewordenen Kunst. Solche Werke entstehen hauptsächlich zur Blüte-
zeit einer Kulturkunstperiode (oder greifen in die nächste ein). Die ausgebildete
offene Blüte verbreitet die Atmosphäre der inneren Ruhe. Zu Keimungszeiten
Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst 9
124 ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST
gleichmäßige Verteilung der einzelnen Teile ist die Stimmgabel und die
geistige Basis solcher Konstruktionen. Solche Werke gehören zu der
Übergangsform.
Als Beispiele der neuen symphonischen Kompositionen, in welchen
das melodische Element nur manchmal und als einer der untergeord-
neten Teile Anwendung findet, dabei aber eine neue Gestaltung be-
kommt, habe ich drei Reproduktionen nach meinen Bildern beigegeben.
Diese Reproduktionen sind Beispiele drei verschiedener Ursprungs-
quellen :
1. direkter Eindruck von der „äußeren Natur", welcher in einer
zeichnerisch-malerischen Form zum Ausdruck kommt. Diese Bilder
nenne ich „Impressionen";
2. hauptsächlich unbewußte, größtenteils plötzlich entstandene Aus-
drücke der Vorgänge inneren Charakters, also Eindrücke von der „inne-
ren Natur". Diese Art nenne ich „Improvisationen";
3. auf ähnliche Art (aber ganz besonders langsam) sich in mir
bildende Ausdrücke, welche lange und beinahe pedantisch nach den
ersten Entwürfen von mir geprüft und ausgearbeitet werden. Diese Art
Bilder nenne ich „Komposition". Hier spielt die Vernunft, das
Bewußte, das Absichtliche, das Zweckmäßige eine überwiegende Rolle.
sind zu viel kämpfende, zusammenstoßende, hemmende Elemente da, als daß
die Ruhe eine sichtlich überwiegende Note bilden könnte. Im letzten Grunde
ist natürlich jedes ernste Werk doch ruhig. Diese letzte Ruhe (Erhabenheit)
ist nur für den Zeitgenossen nicht leicht zu finden. Jedes ernste Werk klingt
innerlich so, wie die ruhig und erhaben gesagten Worte: „ich bin da". Liebe
oder Haß dem Werke gegenüber verduften, lösen sich auf. Der Klang dieser
Worte ist ewig.
SCHLUSSWORT 125
Nur wird dabei nicht der Berechnung, sondern stets dem Gefühl recht
gegeben.
Welche unbewußte oder bewußte Konstruktion aller drei Arten
meiner Bilder zugrunde liegt, wird wohl dem geduldigen Leser dieses
Buches klar sein.
Zum Schluß möchte ich bemerken, daß meiner Ansicht nach wir
der Zeit des bewußten, vernünftigen Kompositionellen immer näher
rücken, daß der Maler bald stolz sein wird, seine Werke konstruk-
tiv erklären zu können (im Gegensatz zu den reinen Impressionisten,
die darauf stolz waren, daß sie nichts erklären konnten), daß wir schon
jetzt die Zeit des zweckmäßigen Schaffens vor uns haben und endlich,
daß dieser Geist in der Malerei im organischen direkten Zusammenhang
mit dem schon begonnenen Neubau des neuen geistigen Reiches steht,
da dieser Geist die Seele ist der Epoche des großen Geistigen.
Bücher übermoderne Kunst aus dem Verlage R. Piper & Co. in München
Der Blaue Reiter
Herausgegeben von KANDINSKY und FRANZ MARC
Die Bücher des Blauen Reiters werden ausschließlich von Künstlern geschaffen und
geleitet. Das soeben erschienene erste Buch, dem andere in zwangloser Reihe
folgen sollen, umfaßt die neueste malerische Bewegung in Frankreich, Deutsch-
land und Rußland, und zeigt ihre feinen Verbindungsfäden mit der Gotik und
dem Primitiven, mit Afrika und dem großen Orient, mit der so ausdrucksstarken
ursprünglichen Volkskunst und Kinderkunst, besonders mit der modernsten
musikalischen Bewegung in Europa und den neuen Bühnenideen unsrer Zeit.
Aus dem Inhalt des ersten Bandes:
ROGER ALLARD Über die neue Malerei
AUGUST MACKE Die Masken
FRANZ MARC Die „Wilden" Deutschlands
FRANZ MARC Die geistigen Güter
E. v. BUSSE Kompositionsmittel bei Delaunay
D. BURLJUK Die „Wilden" Rußlands
TH. v. HARTMANN Die „Anarchie" in der Musik
C. SABANEJEFF „Prometheus" von Skrjabin
ARNOLD SCHÖNBERG Über das Verhältnis zum Text
KANDINSKY „Der gelbe Klang" (eine Bühnenkomposition)
KANDINSKY Über die Formfrage usw.
Mit etwa 120 Reproduktionen. Vier handkolorierte graphische Blätter.
Bayerische, russische Volkskunst; primitive, römische, gotische Kunst; ägyp-
tische Schattenfiguren, Kinderkunst usw. Kunst des XX. Jahrhunderts: Bloch,
Burljuk W. , Campendonk, Cezanne, Delaunay, Gauguin, Girieud, Heckel,
Kandinsky, Kirchner, Kokoschka, Kubin, Le Fauconnier, Macke, Marc, Matisse,
Munter, Nolde, Pechstein, Picasso, Henri Rousseau, Schönberg, van Gogh usw.
MUSIKBEILAGEN: Lieder von Alban Berg, Arnold Schönberg, A. von Webern.
Es erschienen drei Ausgaben: Allgemeine Ausgabe: Geh. M. 10. — , geb.
M. 14. — . Luxus- Ausgabe: 50 Exemplare: Enthält noch zwei von den
Künstlern selbst kolorierte und handsignierte Holzschnitte. Preis M. SO. — .
Museums- Ausgabe: 10 Exemplare: jedem Exemplar wird eine Original-
arbeit eines der beteiligten Künstler beigegeben. Preis M. 100. — . Die letztere
nur vom Verlag direkt zu beziehen. Prospekte kostenlos!
Holzschnitt aus Boccaccios „Buch von den berühmten Frauen" aus
DIE ALTDEUTSCHE BUCHILLUSTRATION
von Dr. Wilhelm Worringer. — Mit 105 Abbildungen.
Stattlicher Großoktavband in Halbleinen gebunden mit handkoloriertem Holz-
schnitt auf dem Deckel M. 7. —
Unser Buch schildert das Herauswachsen des illustrierten Buches aus der
Kunst der mittelalterlichen Miniaturen und aus den Blockbüchern. In den An-
fängen arbeiten in NÜRNBERG, AUGSBURG, ULM, KÖLN, BAMBERG,
LÜBECK und an anderen Kulturstätten eine große Zahl von Meistern, deren
Namen uns nicht überliefert sind. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung
stellen sich dann die großen Deutschen ALBRECHT DÜRER, BURGKMAIR,
SCHÄUFFELIN, BALDUNG-GRIEN, URS GRAF, HANS WEIDITZ und
HANS HOLBEIN in den Dienst der Illustration und schaffen Werke, wie die
„APOKALYPSE", das „MARIENLEBEN", den WEISSKUNIG", den „TOTEN-
TANZ" und andere, die für immer zu den stolzesten Schöpfungen deutscher
Kunst zählen werden. Aus der Fülle des Materials haben wir mehr als hundert
der schönsten und charakteristischsten Blätter, meist nach den Originalen der
Münchener Staatsbibliothek, faksimilegetreu reproduziert, so daß der Bücherfreund
in unserem Bande vereint erhält, was er sich bisher aus hundert Einzelwerken, die
ihm meist nicht einmal ohne weiteres zugänglich waren, zusammensuchen mußte.
Vincent van Gogh
Nächtliche Stadt (Zeichnung)
Die Bücher Julius Meier-Graefes
Hans von Marees. D EiJS_i-J B ? ,, __ B »°F a PN«5 Ba ? d ,P : Katalog
. mit 5UU Abbild, in Autotypie, Lichtdruck, Ura vure und
Farbendruck; Band III: Brief e u. Dokumente. Preis M. 76.— Luxusausgb. M. 200. —
HanS VOn MareeS. Kleine Ausgabe mit 60 großen, meist ganzseitigen
_________ - Abbildungen. Schön gebunden M. 5. —
AugUSt Renoir. Mit 100 Abbild. Eleg. Pappband mit Zeichnung. M. 5 —
Paul Cezanne. Mit 40 Abbild. In eleg. Pappband mit Zeichnung M. 3.—
Vincent Van Goffh. Sechste Aufl. Mit 50 Abbild, und dem Faksimile eines
— — - Briefes. In eleg. Pappband mit Zeichnung M. 3.—
Corot Und Courbet . 2. Aufl. Vermehrt um viele Abbild. Geb. M. 8 —
Tmr»rv»c«ir»niQTf»n Guys — Manet — van Gogh — Pissarro — Cezanne. Mit60,
mipresMuiuaicii. meistganzseit Abbild. 2. Aufl. Geh.M.8.-, geb. 10.-
Die großen Engländer. . Gainsborough - Reynolds - Wilson - Turner
2 2 — Constable — Whistler. Mit 66 Abbildungen.
Geh. M. 8.-, geb. M. 10.-
Im Herbst 1913 erscheint:
Eduard Manet. Mit 100 Abbildungen. Gebunden M. 5 .—
Hishilcawa Moronobu: Aul einem Shungwa. Liebespaar mit dem „Tajelied" des Dichter-
prinzen Narihira aus
Der japanische Holzschnitt
von Dr. Julius Kurth. Mit 75 Ab-
bild, und 100 Signaturen. Geb. M. 3 —
Hariinobll von ^ r " J u '' us Kurth. Mit 60 Abbildungen und 1 Farben-
tafel. Gebunden M. 4. —
Sharakll von ^ r J u '' us Kurth. Mit dem wissenschaftlichen Katalog
aller bekannten Arbeiten des Künstlers und mit 90 meist ganz-
seitigen Abbildungen, darunter 3 Farbentafeln. Format : Groß-Lexikon-Olctav.
Preis geheftet M. 15. — , gebunden in japanisches Material M. 18. — . Luxus-
ausgabe: 50 Exemplare, in japanisches Hirschfell gebunden M. 46. —
Herbst 1912 wird erseheinen:
Tovoklini von Friedrich Succo. 2 Bände. Mit etwa 200 Abbildungen.
i. ca. M. 40. —
Japanische Lyrik g."*' 1 :?' 4 "' ™* übersetzt von Dr. Julius Kurth.
- — Mit 24 Abbildungen nach japanischen Holzschnitten.
Geheftet M. 1.80, gebunden M. 2.80. Luxusausgabe : 50 numerierte Exemplare auf
Kaiserlich-Japan, gebunden in japanische Rohseide M. 12. —
Renntierecblitten. Von einem Tschuktsehen.
Aus
DAS TIER IN DER KUNST von Reinhard Piper
mit 130 Abbildungen, darunter 65 ganzseitige. 8. Tausend
Geheftet M. 1.80 Gebunden M. 2.80
„PROMETHEUS". Der Gedanke der Zusammenstellung eines solchen
Werkes ist sicherlich ein glücklicher. Glänzend aber ist die Art und Weise, wie
derselbe verwirklicht worden ist. Mit Hilfe unserer heute so hochstehenden
graphischen Technik sind wahrhaft musterhafte Illustrationen geschaffen worden.
Man kann nur hoffen und wünschen, daß das Buch ein Volksbuch werden möge.
Theodor Heuss in der „DEUTSCHEN VOLKSKULTUR". Der Schwer-
punkt an Pipers Arbeit liegt in der glücklichen, übersichtlichen Auswahl der
Bilderproben, die ausgezeichnet reproduziert sind; der Text, sachlich unter-
stützend und im Räsonnement zurückhaltend, orientiert rasch und gut über
die geschichtlichen Voraussetzungen und ist, ohne je trivial zu werden^ im
besten Sinn schlicht. Es ist ein Werk, recht dazu angetan, ein Haus- und Er-
ziehungsbuch zu werden.
TOULOUSE-LAUTREC von Hermann Eßwein
Zweite, um zwanzig Abbildungen vermehrte Auflage mit einem Beitrage A. W.
Heymels : Das lithographische Werk Toulouse-Lautrecs. Gebunden M. 3. —
AUBREY BEARDSLEY von Hermann Eßwein
Zweite Auflage. Mit vielen Abbildungen. M. S. —
Beide Bände enthalten ein vorzüglich orientierendes Abbildungsmaterial, das
namentlich durch Reproduktion der besten Arbeiten aus der großen Heymel-
schen Lautrec-Sammlung besonderen Wert erhalten hat Das Groß-Quart-
Format der Bände ermöglichte eine besonders glänzende Ausstattung des
Abbildungsteils.
Gedruckt bei M. Müller & Sohn in München.